Tatort Berlin Wilhelmstraße. Teil 2: Ost

Der erste Teil des Spaziergangs zeigte eine ebenso öde* wie bedrückende Gegend: Wohnblocks, Billigshops und Hotelketten, das ehemalige Zentrum der nationalsozialistischen Terrorherrschaft, die frühere Mauer. Danach folgt ein weiterer Kilometer – diesmal durch den ehemaligen Osten Berlins.

Von Lucia Geis

Den Beginn des Ostteils der Wilhelmstraße markiert ein sprachliches Horrorkabinett. Es wirbt für „Trabi-World“, „Curry at the Wall“ und den „Hi-Flyer“ – einen riesigen Fesselballon*, in dem man sich das Grauen aus der Luft anschauen kann. Man muss kein Zyniker sein, um sich zu fragen, ob dieser Ort gegenüber des ehemaligen Reichsluftfahrtministeriums der Nationalsozialisten, in dem Hausherr Hermann Göring die Bombardierung von Städten wie Guernica, Coventry und Rotterdam und schließlich den Weltkrieg plante, ein geeigneter Ort zum Start eines Rundflugs über Berlins Zentrum ist.

Money, money, money

Da Görings faschistischer Koloss aus dem Jahr 1935/36 im Krieg wundersamerweise kaum beschädigt wurde, nutzte ihn die DDR als „Haus der Ministerien“ einschließlich Supermarkt und Klinik. Hier fabulierte* Staatsratsvor-sitzender Walter Ulbricht, niemand habe die Absicht eine Mauer zu errichten, bevor er kurz darauf eben dies ein paar Meter weiter tat. Als die DDR im Protest- und Schuldenstrudel* untergegangen war, zog die Treuhandanstalt ein. Sie hatte den Auftrag, die ehemals volkseigenen Betriebe zu privatisieren. Schnäppchenjäger* aus dem Westen standen auf der Matte, über vier Millionen Arbeitsplätze zur Disposition. Ihr Chef Detlev Karsten Rohwedder wurde am 1. April 1991 das letzte Opfer der Rote Armee Fraktion.

Heute befindet sich in diesem gigantischen Gebäude das Bundesfinanzminsterium. Der Künstler Jochen Gerz installierte am Eingang Videos, in denen 51 Mitarbeiter des Hauses auf die Frage „Das Geld, die Liebe, der Tod, die Freiheit – was zählt am Ende?“ antworten. Seit 2013 begrenzt der „Platz des Volksaufstandes von 1953» die Nordseite des Gebäudes. Nach Überquerung der Leipziger Straße kann sich der des Schreckens Müde in der „Mall of Berlin“ entspannen, die 2014 für 270 Shops ihre Tore öffnete. Aber auch hier gilt: Es ist nicht alles Gold, was glänzt. Auf dem Filetgrundstück* stand einst das größte und schönste Warenhaus Europas, Besitzer war die jüdische Familie Wertheim. Nach 45 Jahren verlor Georg Wertheim 1937 durch „Arisierung“ sein Geschäft, zwei Jahre später starb er verarmt. Entschädigungsverhandlungen zogen sich bis zur Jahrtausendwende hin. Wem es Bauchschmerzen bereitet, dass eins der für den Bau tätigen Unternehmen verklagt wurde, weil es seinen (rumänischen) Arbeitern den vereinbarten Lohn vorenthalten habe*, kann gleich der Wilhelmstraße folgen und erreicht rechterhand das interessanteste Gebäude der Nachkriegszeit, die tschechische Botschaft. Mit ihrer rostroten Verglasung erinnert sie an den vor zehn Jahren abgerissenen Ostberliner Palast der Republik.

Erst kommt das Fressen

Die gegenüberliegende Straßenseite ist schnell beschrieben: Endlose Meter Edelplattenbauten*. Mitte der 80er Jahre erbaut, grenzen ihre ehemaligen hauseigenen Gärten an das Denkmal für die ermordeten Juden Europas. Im Parterre hat sich in den letzten Jahren eine Fressmeile* zur schnellen Sättigung hungriger Touristenmägen eingenistet*. Denn Touristen gibt es hier viele, manche sagen zu viele. 2011 kämpfte eine Bürgerinitiative dagegen, dass ein Großteil der Wohnungen in inoffizielle Hotelzimmer umgewandelt wurde.

Auf dem Gelände befand sich bis zu seiner Zerstörung im Zweiten Weltkrieg das 1737 erbaute Reichspräsidentenpalais. Ab 1933 beherbergte* es das Reichsministerium für Ernährung und Landwirtschaft, wo Reichsbauernführer Walther Darré von „Blut und Boden“ schwafelte*. Trost spendet auf der anderen Straßenseite – zumindest aus ästhetischen Gründen – die erhaltene neobarocke Villa des Bankiers Gerson von Bleichröder, dem Finanzberater Bismarcks.

Der spätere Bundeskanzler Konrad Adenauer hatte hier 1932/33 eine Dienstwohnung, nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten diente sie Hitlers Stellvertreter Rudolf Heß als Amtssitz. 2000 zog das Bundesministerium für Landwirtschaft und Ernährung ein. Ob die Wahl auf diesen Ort eingedenk* des blutbesessenen* Nachbarn Darré fiel, ist unbekannt und vielleicht im Angesicht all des Grauens auch schon egal. Auf den letzten Metern der Wilhelmstraße, kurz bevor sie nahe des Brandenburger Tors in den Boulevard Unter den Linden mündet, leuchtet in Form roter Lichter endlich ein Hoffnungsschimmer* auf. Beim Näherkommen sieht man jedoch, dass er lediglich von den Straßenpollern* ausgeht, die die postmoderne Britische Botschaft vor unbefugten* Fahrzeugen sichern sollen. Er entpuppt* sich insofern als geradezu symbolisches Trugbild*. Denn seit dem Brexit werden die Briten von Populisten aller Länder feixend* als die Totengräber des vereinten Europas beklatscht, wobei diese ihre ach so geliebten Völker vergessen machen wollen, was ein zerrissenes Europa einst für sie bedeutet hat. In der Wilhelmstraße liegen die Narben* für jeden sichtbar offen zutage. Die farbenfrohen Wandverkleidungen der Britischen Botschaft wären in einem zunehmend nationalistischen Europa nur noch eine aus hoffnungsvolleren Zeiten stammende Fassade, hinter der und um die herum sich ein neues, nachmodernes Grau(en) ankündigt.

Den Spaziergang durch den Westteil der Wilhelmstraße konnten Sie in der vorigen Ausgabe erleben.

Aufgaben

1. Schlagen Sie für den Satz „Als die DDR… untergegangen war» eine andere Konjunktion vor.
2. Warum ist auch das Einkaufszentrum „Mall of Berlin“ Teil des Schreckens der Wilhelmstraße?

*Lesehilfe

öde: leblos, langweilig
der Fesselballon: mit Drahtseilen an der Erde befestigter Ballon
fabulieren: frei Erfundenes erzählen
der Schuldenstrudel:
Verschuldung, die nicht
mehr beherrschbar ist
der Schnäppchenjäger: jd., der immer das Günstigste sucht
das Filetgrundstück: teures Grundstück in bester Lage
vorenthalten: jdm. etwas nicht geben, obwohl es ihm zusteht
der Edelplattenbau: Plattenbau in überdurchschnittlich guter Qualität
die Fressmeile: Aneinanderreihung von Imbissen, Restaurants
sich einnisten: sich dauerhaft niederlassen
beherbergen: jdm., etwas Raum bieten
schwafeln: dummes Zeug reden
eingedenk: berücksichtigend
blutbesessen: vom Gedanken an Blut beherrscht
der Hoffnungsschimmer: kleiner Moment der Hoffnung
der Straßenpoller: Straßensperre aus Metall oder Beton
unbefugt: ohne Erlaubnis
sich entpuppen: zuvor
Verborgenes zeigen
das Trugbild: die Täuschung
feixen: schadenfroh sein,
sich heimlich freuen
die Narbe: Spur einer
früheren Wunde

 

 

 

Lösungen

1. nachdem (als klingt aber lebendiger); 2. Dort stand ein Kaufhaus der jüdischen Famile Wertheim, die die Nazis (quasi) enteigneten.

 
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