Von Lucia Geis
Herta Müller ist eine kleine Frau mit immer gleich akkurat geschnittenem schwarzem Pagenkopf. Zum Lesen setzt sie die immer gleiche winzige schwarze Lesebrille auf. Eine deutsche Redewendung sagt, man begegne sich immer zweimal. Herta Müller wünscht man, ihr wären manche Wiederbegegnungen erspart geblieben, nicht weil sie sich beim ersten Mal schlecht benommen hätte, sondern weil es ihre Gegenüber taten.
Zu Müllers Geschichte: Das Dorf ihrer Geburt hasst sie. Es regiert Engstirnigkeit*, die jeden ausschließt, der den Normen nicht entspricht. Der Vater, ehemaliges SS-Mitglied, trinkt und gehört im Dorf dennoch dazu. Sie studiert und arbeitet in einer Fabrik. Sie lernt Schriftsteller kennen, beginnt (auf Deutsch) zu schreiben und wird von der rumänischen Staatssicherheit Securitate verhört und verfolgt. 1987 darf sie endlich ausreisen. Erste Station ist ein Aufnahmelager in Nürnberg. Vom Fenster aus schaut sie auf das ehemalige Parteitagsgelände der Nazis. Auch jetzt verhört man sie. Auch hier glaubt man ihr nicht. Man hält sie für alles mögliche, eine Spionin, eine Agentin der CIA. Man fragt sie nach der Kleidung der rumänischen Folterknechte*. Sie schweigt. Als der sie verhörende Bürokrat seine eigene Kleidung als „zweckmäßig“* bezeichnet, entdeckt sie darin das Adjektiv für die bundesrepublikanische Mentalität. Man empfiehlt ihr, als Deutsche nach Deutschland gekommen zu sein. Aber sie beharrt* darauf, politisch Verfolgte zu sein. So wird sie Emigrantin, wartet drei Jahre auf einen deutschen Pass, und in der Zwischenzeit bedrohen sie unterschiedlichste Leute. Trotzdem schreibt und publiziert sie weiter. Und sie lernt den Autor Oskar Pastior kennen.
Der Nobelpreis
Ein Buch von Herta Müller zu lesen, bedeutet, die Sprache neu zu lernen. Nicht weil sie komplizierte Sätze schreibt, im Gegenteil. In ihrem Prosaband „Reisende auf einem Bein“ (1989) gibt es auf den ersten zwei Seiten keinen einzigen Nebensatz. Aber die Sprache schwingt*, die Wörter beginnen zu schaukeln*, schütteln den Leser in seiner schlafwandlerischen* Sicherheit, bis er erwacht. Nach der Publikation des Romans „Atemschaukel“ erhält sie den Literaturnobelpreis. Sie sagt, das Schreiben sei ihr ein Schutz. Auch Pastior hatte im Lager die Sprache gerettet. „Atemschaukel“ planten die beiden als gemeinsame Arbeit. Pastior war als Angehöriger der deutschen Minderheit in Rumänien zwischen 1945 und 1949 in einem sowjetischen Arbeitslager interniert, aus dem er halb verhungert entlassen wurde. 1968 ging er in die Bundesrepublik. 2004 besuchten Müller und er das Lager. Als Pastior 2006 plötzlich stirbt, schreibt Herta Müller das Buch anhand der Notizen allein.
Parallel dazu entsteht ein kleiner Band mit Collagen aus Worten, die ohne Punkt und Komma zu Miniaturgeschichten werden; balladesk* im Erscheinungsbild, trocken in der Aussage. Sie betrachtend lesend sieht man Herta Müller vor sich auf dem Fußboden sitzend, von Zeitschriften umgeben, eine Schere in der Hand, so klein und präzise wie ihre Brille – ein Tier, das eine Fährte* aufnimmt. Hinter den Collagen trat Herta Müller zurück. Und dennoch wurde ihr
Leben von ihnen eingeholt.
An einem warmen Spätsommertag 2010 will das Literaturhaus Herta Müller feiern und lädt zur Eröffnung einer Ausstellung, in der auch die Originale der Collagen gezeigt werden, in seinen Garten ein. Ernest Wichner, der Leiter des Literaturhauses, steht neben ihr. Kameraleute tauchen auf – nicht wegen der Ausstellung. Am Morgen stand in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, Oskar Pastior habe für die Securitate gearbeitet. Ernest Wichner sagt ein paar Sätze über die Autorin und dann, man werde die Vorwürfe prüfen. Die Kameras hängen der sichtlich tief getroffenen Herta Müller vor dem Gesicht. Später bezeichnet sie die Enthüllung* als „Ohrfeige“. Der Wut folgen „Anteilnahme und Trauer“.
Der unbeantwortete Brief
Diesen Kameraleuten musste Herta Müller nicht wiederbegegnen, als sie nun am selben Ort ihr neues Buch „Herzwort und Kopfwort“ vorstellte. Der titelgebende Text beschäftigt sich mit der bis heute ausgebliebenen* Anerkennung all der Menschen, die durch die Nazis ins Exil getrieben wurden, oftmals nie wieder Fuß fassten* und in vielen Fällen nach ihrer Rückkehr in die neue Bundesrepublik diskriminiert wurden. Willy Brandt musste sich fragen lassen, was er in Schweden eigentlich gemacht habe, und Schriftsteller verunglimpften* Kollegen wegen ihres angeblichen „Emigrantendeutschs“. Beim „Beschweigen“ des Exils sei all das „zweckmäßig“ gewesen. Bis heute kämen die Emigranten im Gedenkstättenkonzept des Bundes nicht vor, weil sie nicht als Opfer gelten. Herta Müller empört*, dass das Wort „Heimatvertriebene“ denjenigen vorbehalten* ist, die aus den ehemaligen deutschen Ostgebieten vertrieben wurden. Während es für diese in Berlin bald eine Dauerausstellung gebe, habe Angela Merkel ihren Brief, in dem sie um ein Engagement für die Nazi-Vertriebenen gebeten habe, nicht beantwortet. Herta Müller möchte die Ersetzung des Kopfwortes „Emigranten“ durch das Herzwort „Heimatvertriebene“. Dann würde sich auch das Denken über die heutigen Vertriebenen aus aller Welt ändern. Denn an die Stelle von „Zweckmäßigkeit“ träte dann „Anteilnahme“.
Lesehilfe
die Anerkennung: Würdigung, Respektierung
die Engstirnigkeit: Denken, das nur das eigene Verhalten akzeptiert
der Folterknecht: Helfer von Menschen, die gewaltsam verhören
zweckmäßig: dem Ziel dienend
auf etwas beharren: nicht nachgeben
schwingen: (sich) leicht hin und her bewegen
schaukeln: (sich) stärker hin und her bewegen
schlafwandlerisch: unreflektiert, gewohnt
balladesk: tänzerisch, liedhaft
eine Fährte aufnehmen: eine Spur suchen (und finden)
die Enthüllung: Bekanntgabe einer skandalösen Information
ausbleiben: nicht passieren
Fuß fassen: sich etablieren
verunglimpfen: unbegründet schlecht machen
empören: sehr ärgern, entsetzt sein
vorbehalten: nur für die genannte Gruppe sein
Aufgaben
1. Warum musste die Rumäniendeutsche Herta Müller drei Jahre auf einen deutschen Pass warten?
2. Dass es sich bei Vertriebenen – anders als bei Emigranten – um Opfer handelt, zeigt schon die grammatische Form des Wortes. Wodurch?
Lösungen
1. Sie wollte nicht als Deutsche, sondern als Verfolgte nach Deutschland.
2. „Vertriebene“ kommt von der Passivform „vertrieben worden sein“ (Vertriebene verlassen also ihre Heimat nicht als aktive Subjekte, sondern weil andere es wollen).