Allons enfants de la Berlin*

Nach den Pariser Anschlägen 2015 herrscht in Frankreich immer noch Ausnahmezustand*. Und trotzdem standen am 23. April und am 7. Mai Franzosen vor der Botschaft in Berlin Schlange, um eine ausländer- und europafeindliche Präsidentin zu verhindern.

Miniatur-Eiffelturm vor dem Centre Français de Berlin / Peter Kuley

In Berlin gibt es die Französische Straße, den Französischen Dom, seit 1689 das Französische Gymnasium als erste öffentliche Schule Berlins mit heute knapp 800 Schülern und seit 1996 in der Friedrichstraße das französische Kaufhaus „Galeries Lafayette“. Mit ihm erwachte der einstige Boulevard zu neuem Leben. Alteingesessene* Berliner sagen Bulette* und Trottoir*, das Berliner Wort „todschick“ geht auf das französische „Tout chic“ zurück. Den Hugenotten, die seit 1685 als Glaubensflüchtlinge nach Berlin kamen, sei Dank. Selbst im Zuge der Napoleonischen Kriege 1806 erlebte Preußen einen von den Ideen der französischen Revolution angeregten Reformschub*, der die Verkrustungen* der Zeit aufbrach. So wurde 1810 die Berliner Universität gegründet. Und auch nach zwei Weltkriegen blieb der Einfluss. 1961 baute die französische Militärregierung das Centre Français de Berlin als deutsch-französisches Kulturzentrum, nach der Wiedervereinigung wurde es geschlossen, 1994 jedoch im Geiste deutsch-französischer Freundschaft wiedereröffnet.

Ich liebe dich so viel*

Rund 19 000 Franzosen leben heute in Berlin, in den letzten zehn Jahren hat ihre Zahl sich fast vedoppelt. Viele von ihnen kamen als Stu-denten und blieben. Sie wohnen bevorzugt in den bürgerlichen Stadtteilen Charlottenburg, Mitte, Kreuzberg und Prenzlauer Berg, angeblich, weil sie hier den Charme finden, den Paris durch Tourismus und Gentrifizierung verloren hat.

Alles sei enger, stressiger, dreckiger als in Berlin, ist die einhellige* Meinung. Régis Presnet-Griot, langjähriger Herausgeber der „La Ga-zette de Berlin“ konstatierte schon vor zehn Jahren, Berlin zeichne sich durch Neugier aus, während in Paris alles verkrustet sei – vor 200 Jahren eine undenkbare Haltung. Zugezogen ist auch Antoine Villoutreix. In seiner Hommage „Berlin, du weißt, ich liebe dich so viel“ besingt er mit dem typisch französischen Fehler augenzwinkernd* seine Wahlheimat mit ihrer Gelassenheit, den Punks und Partys, den Hunden ohne Leine und dem fehlenden Geld, kurz ihrem „Laissez faire“, das doch eigentlich den Franzosen eigen ist.

Aber spätestens seit den zahlreichen terroristischen Anschlägen in Frankreich, dem danach verhängten* Ausnahmezustand mit in den Straßen patrouillerenden schwer be waffneten Soldaten und der Möglichkeit, dass Marine Le Pen vom rechtsextremen Front National die nächste Präsidentin des Landes werden könnte, hat dieses französische Lebensgefühl einen Riss bekommen. Viele der Berliner Franzosen sorgen sich nicht nur um ihr Land, sondern auch um die Freiheiten, die ihnen die Europäische Union bietet. Und so lag, auch wenn am Vorabend der französischen Präsidentenwahlen vom 23. April in den Bistros die Stimmung entspannt schien, ihre Wahlbeteiligung im ersten Wahlgang trotz bürokratischer Hürden* um 17 Prozent höher als bei der Präsidentschaftswahl 2012. Ginge es nach den Berliner Franzosen, wäre Marine Le Pen eine Marginalie* der Geschichte, sie kam auf ganze 2,1% (in Frankreich auf über 21%). Dagegen vereinigte der junge Kandidat Emmanuel Marcon mit seinem eindeutigen Bekenntnis zur Europäischen Union fast die Hälfte der Stimmen auf sich (in Frankreich nur ein Viertel).

Ne me quitte pas*

Dass viele Berliner sich auch etwas eigennützig keinen Sieg der französischen Europafeinde wünschen, liegt nicht zuletzt an der Lebenskultur, die die Franzosen heute genauso wie in den letzten Jahrhunderten in Berlin vorleben. Und wenig ist mit ihr enger verbunden als die französische Küche. Ohne sie kein „Savoir vivre“*, ohne sie kein Treffen mit Freunden. Viele Berliner tun* es ihnen inzwischen gerne gleich. Auch Angela Merkel soll einen Lieblingsfranzosen haben, bei dem sie gerne Blutwurst und Käse isst. Sie fährt dazu zwar vom Regierungsviertel zum Prenzlauer Berg, ansonsten findet inzwischen jeder in seinem Kiez ein kleines Bistro mit französischer Alltagskost, guten Weinen, bestem Käse, freundlichen Gastronomen und dem charmanten Akzent, den die Deutschen so sehr lieben. Das Klischee, Franzosen lernten keine Fremdsprachen und schon gar nicht Deutsch, entlarvt* sich nicht nur dort als solches.

Aber auch die 1982 vom damaligen französischen Kulturminister Jack Lang gegründete Fête de la musique hat sich seit 1995 in Berlin mit Zehntausenden Besuchern fest etabliert. Zum diesjährigen Fest – wie immer am 21. Juni – werden jedem, der Musik machen möchte, 100 Bühnen auf Bürgersteigen und in Parks, auf Garagendächern und in Eckkneipen zur Verfügung stehen. Eintritt muss niemand zahlen und jeder, ob reich oder arm, Franzose oder was auch immer, der auch nur einen Rest von Neugier im Leib hat (und sie charakterisiert ja nach Meinung der Franzosen die Berliner), kann sich durch die klingende Stadt treiben lassen, ganz im Sinne von „liberté, egalité, fraternité“. Die Berliner Franzosen haben mit ihrer Wahl ein deutliches Bekenntnis zu diesen Werten für Europa, Frankreich und Berlin ab-
gegeben.
Dass die Stichwahl am 7. Mai zum „jour de gloire“* der Tricolore wurde, feierten europäische Berliner und Berliner Franzosen im Marie Antoinette in Berlin Mitte – mit Jubel, Rotwein und Hoffnung für Europa, während die deutsche AfD-Politkerin Frauke Petry derweil ihrer Schwester im Geiste Marine Le Pen zur „bedauerlichen“ Niederlage gratulierte. Eine Marginalie.

Aufgaben

1. Welches deutsche Wort ist aus dem Französischen „mocca faux“ entstanden?
2. Was bedeutet „soll“ im Satz „Angela Merkel soll einen Lieblingsfranzosen haben“?

*Lesehilfe

allons enfants de la patrie: Auf, Kinder des Vaterlands (1. Zeile der frz. Nationalhymne)
der Ausnahmezustand: Zustand eingeschränkter Gültigkeit der Verfassung
der Alteingesessene: jd, der schon lange an einem Ort lebt
die Bulette: (von frz.: la boulette) Frikadelle
das Trottoir: (frz.) der Bürgersteig
der Reformschub: viele Reformen in kurzer Zeit
die Verkrustung: Erstarrung, Stagnation
so viel: so sehr (Titel eines Liedes)
einhellig: unumstritten
augenzwinkernd: (selbst-)ironisch
verhängen: einführen
die Hürde: Hindernis
die Marginalie: unwichtiges Ereignis
ne me quitte pas: Verlass
mich nicht (Titel eines Chansons von Jacques Brel)
savoir vivre: (frz.) Lebenskunst
es jdm. gleichtun: es machen wie ein anderer
sich entlarven: offensichtlich werden
le jour de gloire est arrivé:
Der Tag des Ruhmes ist gekommen (2. Zeile der frz. National-
hymne)

 

 

 

 

Lösungen

1. Muckefuck (für Ersatzkaffee);
2. angeblich / es gibt das Gerücht.

 
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