Sisyphos als Ingenieur

Vor 100 Jahren starb Ferdinand Graf von Zeppelin. Sieht man einen Zeppelin am Himmel, bleibt einem der Mund offen stehen ob* des stillen Dahingleitens* dieses walförmigen, tonnenschweren und dennoch eleganten Flugobjekts, das wie von einer unsichtbaren Schnur gezogen durch die Lüfte schwebt. Am 8. März 1917 jährte sich der Todestag seines Erfinders.

Messflug mit dem Zeppelin NT. / pixabay.com

Von Lucia Geis

Man müsse sich Sisyphos als glücklichen Menschen vorstellen, schrieb der französische Philosoph Albert Camus. Ferdinand Graf von Zeppelin ist Oberstleutnant, bevor er 1891 seinen Dienst quittiert*, um sich ganz seinen Visionen hinzugeben. Als Beobachter der amerikanischen Sezessionskriege hatte er 1863 eine erste Ballonfahrt erlebt, was den studierten Ingenieur zu einer Mischung aus Dädalos und Sisyphos machen würde, verfolgte er doch fortan beharrlich* etwas, das andere für absurd hielten.

Orden für den Narr

Im Deutsch-Französischen Krieg von 1870/71 wird Zeppelin durch einen Erkundungsritt berühmt. Ihn selber interessiert allerdings mehr, was in der Luft geschieht: Er träumt von lenkbaren Luftschiffen und verfasst 1887 eine Schrift über die „Notwendigkeit der Lenkballone“. Befreit vom Armeedienst reist er vier Jahre später in die Schweiz, um erneut an einer Ballonfahrt teilzunehmen. Von dem Moment an gibt es kein Halten mehr. Gegen Windmühlen ankämpfend gilt der Graf bald als starrköpfiger* Narr. Seine Versuche, für den Bau eines Luftschiffes Geld zu sammeln, scheitern schmählich*: Der Kaiser spendet 6000 Mark, eine Million hätte geholfen. Dessen ungeachtet beginnt Zeppelin 1899 mit dem Bau des riesigen Luftgefährts aus Aluminium, an dessen Gerippe* Gondeln* hängen. Kaiser Wilhelm II. nennt Zeppelin den „Dümmsten aller Süddeutschen“, nicht ahnend, dass schon ein Jahr später ein 128 Meter langer und 13 Tonnen schwerer Zeppelin – der Prototyp LZ 1 über dem Bodensee aufsteigen würde. 12000 Zuschauer feiern ihn enthusiastisch und obwohl er nach achtzehn Minuten notlanden muss, sieht sich der Herrscher veranlasst, dem dümmsten Süddeutschen den roten Adlerorden zu verleihen. Gefreut haben dürfte sich der Franzosenhasser lediglich darüber, dass der LZ 1 den Geschwindigkeitsrekord des franzö-sischen Konkurrenten „La France“ brach. Sisyphos Graf Zeppelin aber ist oben angekommen. Doch nach zahlreichen Unfällen muss er aus Geldmangel sein Luftschiff auseinandernehmen, die Einzelteile verkaufen und aufgeben*. Vorerst.

Engel und Vatermord

Zu Beginn des neuen Jahr-hunderts entstehen vor allem spendenfinanziert LZ 2 und LZ 3. Seit 1904 interessiert sich auch das Militär für die Technik und erwirbt schließlich den LZ 3. Immer wieder kommt es zu Notlandungen und Beschädigungen, am 5. August 1908 schließlich zur Katastrophe, als der LZ 4 nach mehreren Motorschäden in einen Sturm gerät, Feuer fängt und wie Ikarus vom Himmel fällt. Trotzdem sammelt die begeisterte Bevölkerung eine Millionensumme. Graf Zeppelin und die gegründete Luftschiffbau Zeppelin GmbH kön-nen den Stein des Sisyphos erneut den Berg hinaufrollen.

Bis zum Ersten Weltkrieg werden 21 weitere Zeppeline gebaut, seit 1911 existiert ein Linienverkehr zwischen deutschen Großstädten. Dass die meisten Luftschiffe abstürzen, mindert den Enthusiasmus nicht. Das 1912 erbaute prächtige Jugendstilgebäude des Rauchwarenhändlers Felix Reimann in der Leipziger Innenstadt mit seinem Zeppelin-Relief zeugt* noch heute davon.

Der Krieg macht das Militär begehrlich*. Es kauft alle noch existierenden Zeppeline, gelten sie doch den damaligen Flugzeugen als in vielerlei Hinsicht überlegen: Vor allem können sie schwere Bomben transportierten. England bekommt das zu spüren: Bei über 50 Angriffen werden fast 200 Tonnen abgeworfen. Auch in der Zivilbevölkerung Belgiens verbreiten sie Angst und Schrecken. Der Versailler Vertrag verbietet später die Produktion, die letzten beiden Luftschiffe gehen an Italien und Frankreich. Der Stein des Sisyphos liegt erneut im Tal, der ein Jahr zuvor verstorbene Graf hatte jedoch seine Arbeit getan. Nun obliegt* es seinem Nachfolger Hugo Eckener, den Stein zu heben. Dieser setzt* auf die friedliche Nutzung der Luftschiffe. Mit Erfolg: Der amerikanische Präsident Calvin Coolidge bezeichnet den 1924 gelieferten LZ 126 als „Friedensengel“. Mit LZ 127 „Graf Zeppelin“ gelingt Eckener 1929 die erste und einzige Umfahrung der Welt, zwei Jahre später unterstützt die russische Regierung eine deutsch-russische Arktisfahrt, von 1930 bis 1936 floriert* ein trans-atlantischer Liniendienst.

Die Nationalsozialisten investie-ren lieber in die Flugzeugtechnik, Eckeners Idee der Völkerverbindung ist den Kriegsplanern ein Dorn* im Auge. Hitler soll zudem verhindert haben, dass der 1936 gebaute LZ 129 auf seinen Namen getauft wird – mit ihm sollte man nie ein Unglück verbinden. Und so geht im Mai 1937 bei der Landung von LZ 129 „Hindenburg“ in den USA symbolisch der Mann, der Hitler zum Reichskanzler gemacht hatte, in Flammen auf. Dieser politische „Vatermord“ besiegelt* das Ende der Zeppeline, schon bevor Reichs-luftwaffenminister Hermann Göring 1940 ihre Abwrackung* anordnet.

Und trotzdem scheint die Faszination bis heute ungebrochen. Immer wieder findet sich jemand, der den Stein bewegen will. So entstehen seit den 90er Jahren in Friedrichshafen am Bodensee Zeppeline mit neuer Technologie, die auch Japan, Südafrika, Frankreich und die USA zu Forschungsflügen und als touristische Attraktion nutzen. Wer die Heimat der Zep-peline aus der Luft sehen will, kann für gut 800 Euro zwei Stunden lang auf 300 Meter Höhe über dem Bodensee schweben. Der Zeppelin-Traum ist bescheiden geworden. Diese Tugend hätte Ikarus das Leben retten und Dädalus den Kummer ersparen können. Aber der Stein wäre niemals zum Gipfel gelangt.

Aufgaben

1. Erklären Sie die Bedeutung des Modalverbs in (a) „Hitler soll verhindert haben“ und (b) „mit ihm sollte man nie ein Unglück verbinden“.
2. Warum wird im Text der Absturz des LZ 129 „Vatermord“ genannt?

*Lesehilfe

ob: aufgrund, angesichts
gleiten: ohne
Kraftaufwand fliegen
den Dienst quittieren:
(im Staatsdienst) kündigen
beharrlich: mit Nachdruck, wiederholt
starrköpfig: sturr, unbelehrbar
schmählich: erbärmlich
das Gerippe: Skelett, Konstruktion
die Gondel: hängende kleine Kabine
aufgeben: kapitulieren
zeugen von: beweisen
begehrlich: vom Wunsch
auf Besitz erfüllt
obliegen: als Pflicht zufallen
setzen auf: hoffen auf,
rechnen mit
florieren: blühen,
erfolgreich sein
ein Dorn im Auge sein: stören
besiegeln: gültig,
endgültig machen
die Abwrackung: zum Wrack, unbrauchbar machen

 

 

 

 

Lösungen

1. (a) angeblich, (b) jemand wünschte , dass; 2. Adolf Hitler hatte LZ 129 nach Hindenburg benannt.

 
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