Von Lucia Geis
Manche Wörter verschwinden aus der Sprache, weil der Gegenstand, den sie bezeichnen, nicht mehr existiert. Dazu gehört das Wort “Badeanstalt”. Heute gibt es Schwimmhallen und Freibäder. In Badeanstalten konnte man baden. Noch in den 90er Jahren betrieb Berlin öffentliche Badeanstalten. Wort wie Ort erschienen dem Menschen aus Westdeutschland extrem altmodisch. 20 Pfennig kostete es, sich für eine halbe Stunde in eine Badewanne zu legen, eine von vielen in einer langen Reihe, nur durch Holzwände voneinander getrennt. Sie hatten die gesellschaftliche Funktion, für notwendig erachtete hygienische Standards zu gewährleisten*, denn in vielen Berliner Altbauwohnungen befanden sich weder Dusche noch Badewanne. Heute findet Körperreinigung in den privaten vier Wänden statt, während sie jahrhundertelang eine öffentliche Angelegenheit war.
Badekunst
Die Keimzelle* Europas liegt – so wird zumindest behauptet – in Aachen, einer Stadt, in deren Umgebung weit und breit kein Fluss oder See zu finden ist. Dennoch war Wasser für Karl den Großen der Grund, im 9. Jahrhundert seine Residenz, von der aus er Europa eroberte und regierte, gerade an diesem Ort zu gründen. Er wusste um Nutzen und Reiz der dortigen bis zu 90 Grad heißen Quellen und baute deshalb Bäder und trank das gesunde stinkende schwefelhaltige Wasser. Noch heute kann sich die Stadt mit dem Titel „Bad Aachen“ schmücken, genauso wie 187 andere Orte Deutschlands. Tschechow starb 1904 in Badenweiler. In Baden-Baden verbrachte Dostojewski 1867 zwei Monate, wobei er sich allerdings mehr für das dortige Spielcasino als die Badekuren interessiert haben dürfte. Zwischendurch zerstritt er sich mit dem ebenfalls anwesenden Turgenjew.
Auf einer der ersten großformatigen Darstellungen eines öffentlichen Badebetriebs (Matthias Gottfried Eichler, 1799) sind die Bäder Serebrjanitscheskie in Moskau zu sehen. In ungezwungener Freude amüsieren sich Nacktbadende im Fluss, am Ufer schlagen sie sich mit Zweigen ab, was die Blutzirkulation fördert und der Haut einen angenehmen Duft verleiht. Das Schöne ist mit dem Nützlichen verbunden, Spaß und Erotik mit Körperpflege und Gesundheit.
1966 wurde im DDR-Film “Spur der Steine” eine Badeszene zum Stein des Anstoßes*: Drei Männer einer Arbeitsbrigade baden nackt in einem Löschwasserbecken, was sogleich einen Volkspolizisten auf die Barrikaden treibt*. Nicht das Nacktbaden – also mangelnde Moral – ist ihm ein Dorn im Auge*, wenn er schreit: “Das ist keine öffentliche Badeanstalt”, sondern die Selbstermächtigung* der Untertanen*, die den Ort ihres Vergnügens frei wählen. Da schließlich die Obrigkeit* in Form des Polizisten auch noch im wahrsten Sinne des Wortes baden geht*, indem die Arbeiter ihn ins Wasser schmeißen, sah sich die Staatsmacht veranlasst, den Film zu verbieten.
Die Badeanstalten sind also Orte realer wie seelischer Reinigung, Orte der Spontaneität, des Sich-Ausprobierens und des harmlosen Protestes. Und wer das Baden allzu sehr reglementiert, dem wird ein kleiner frecher Streich gespielt*. Mit Schwimmen als körperlicher Ertüchtigung* hat all dies nichts zu tun.
Badepolitik
Schwimmbäder zur Verfügung zu stellen, zählt heute zu den – wenn auch freiwilligen – Aufgaben der Kommunen. Der Schwimmunterricht ist Teil des schulischen Sportunterrichts, wenn auch zunehmend seltener, da viele Städte und Gemeinden aufgrund leerer Kassen Schwimmbäder schließen (im Land Berlin wurden 2001/02 elf Bäder geschlossen). Streit entsteht in den verbliebenen mancherorts wegen der obligatorischen Badekleidung: Seit Juni gilt in Neutraubling bei Regensburg ein Burkini*-Verbot. Das heißt nur Badehose, Badeanzug oder Bikini – genannt “allgemein übliche Badekleidung” – sind erlaubt. Berliner Schülerinnen dürfen dagegen beim Schwimmunterricht einen Burkini tragen (auch um zu verhindern, dass die muslimischen Mädchen nicht am Unterricht teilnehmen). In einigen Schwimmhallen gibt es spezielle Badezeiten nur für Frauen, zu denen der Burkini ebenso selbstverständlich ist wie weibliche Badeaufsicht.
Eine nur scheinbare Alternative zu öffentlichen Schwimmbädern sind privat finanzierte sogenannte Spaßbäder. Denn in ihnen kann man erstens nicht schwimmen, sondern nur plantschen* und rutschen*. Zweitens muss man sich an europäische Bademodengebräuche halten und drittens ein Vielfaches bezahlen können. Die Folge ist, dass immer weniger Kinder und Jugendliche überhaupt schwimmen lernen.
Wie sehr sich trotzdem alle vom kühlen Nass angezogen fühlen, dafür drei Beispiele. In Hamburg ist mit der HafenCity ein neuer, im Wasser liegender Stadtteil entstanden, der zu den teuersten und begehrtesten der Stadt zählt. Mitten in Berlin in der Spree liegt ein entkernter* Schiffskörper, mit Wasser gefüllt und von Pontons umgeben, auf denen die Techno-Szene bis zum frühen Morgen chillt* oder die Tango-Szene tanzt. Zwischendurch baden tun sie alle. Und die Berliner Seen sind von Jahr zu Jahr bevölkerter, gänzlich unreglementiert. Auf Kommunen wie Anstalten pfeifend* tummeln* sich hier alle: Langstreckenschwimmer und Plantscher, Nacktbadende und Muslima oder Hautkrebs-Paniker in Ganzkörperverhüllung, Muskelprotze* und Fettleibige, Faltige und Botox-Manipulierte, alle zusammen wie sonst kaum irgendwo. Selbst ein Polizist würde niemanden stören und es stellt sich die Frage, ob ein nackter Polizist überhaupt noch ein Polizist ist. Vielleicht besteht das Wesen der reinen Seele, zu der das Baden seit Jahrhunderten führen soll, ja genau darin: in Gelassenheit gegenüber der Freiheit des Denkens und der Vielfalt der Lebensformen.
Aufgaben
1. Was bzw. wer kann nicht baden gehen?
a) ein Polizist, b) ein Staat, c) ein Streich
2. Was bedeutet „dürfte“ in dem Satz „Dostojewski dürfte sich mehr für das Spielcasino interessiert haben“?
*Lesehilfe
seit Menschengedenken: schon immer
gewährleisten: garantieren
die Keimzelle: Ursprung
der Stein des Anstoßes: Grund der Kritik
jdn. auf die Barrikaden treiben: bei jdm. Protest hervorrufen
ein Dorn im Auge sein: stören
die Selbstermächtigung: Vorgang, mittels dessen man sich selbst die Macht gibt
der Untertan: politisch Ohnmächtiger
die Obrigkeit: politisch Mächtige
baden gehen: (metaphorisch) scheitern
jdm. einen Streich spielen: mit einem Mächtigeren einen (bösen) Spaß machen
die Ertüchtigung: körperliche Kräftigung, Abhärtung
der Burkini: (Mischung aus Bikini und Burka) Ganzkörperbadekleidung
plantschen: im Wasser spielen
rutschen: (hier) über eine steile Metallkonstruktion ins Wasser gleiten
entkernt: (hier) leer
chillen: sich entspannen
auf etwas pfeifen: für unwichtig halten
sich tummeln: sich bewegen (große Zahl von Menschen)
der Muskelprotz: jd., der sehr stolz auf seine extremen Muskeln ist
Lösungen
1. c 2. wahrscheinlich.