Rein und Raus

Globalisierung hat viele Facetten: Vor einem Jahr stand Deutschland kopf* wegen der vielen Geflüchteten, die kamen. Inzwischen studieren die ersten, andere gestalten Ausstellungen. Von Globalisierung spricht auch die erste deutsche Ausstellung über den deutschen Kolonialismus. 

Im Gepäck nur Träume (Vorgarten des Museums Europäischer Kulturen). / Lucia Geis

Im Gepäck nur Träume (Vorgarten des Museums Europäischer Kulturen). / Lucia Geis

Von Lucia Geis

Auf den ersten Blick haben die Berliner Ausstellungen nichts miteinander zu tun. In der einen geht es ums 19. und frühe 20. Jahrhundert, in der anderen vor allem um die letzten 25 Jahre. Die eine zeigt eine Bewegung aus dem Norden, die andere in den Norden. Die eine handelt von der Macht einer Nation, die andere von Wegen aus der Ohnmacht. Die eine ist vom Land der Täter kuratiert*, die andere von Opfern gestaltet. Im Deutschen Historischen Museum in Berlin heißt die Ausstellung „Deutscher Kolonialismus“, im Museum Europäischer Kulturen in Berlin-Dahlem „daHeim: Einsichten in flüchtige Leben“.

Deutsche in Afrika

Wer die Ausstellung im Historischen Museum betritt, hat sich vermutlich zuvor gefragt, wie ein Museum den deutschen Kolonialismus darstellen kann, ohne vor allem Beuteexponate* oder propagandistische Verlautbarungen* zu präsentieren. Bevor der Besucher dann überhaupt etwas sieht, liest er Texte der Kuratoren, die den deutschen Kolonialismus historisch einordnen. Dieser wird als „erster Höhepunkt der Globalisierung“ und als „nur eine Station in einem Verflechtungsprozess“* bezeichnet, in dem es galt, „Rohstoff- und Absatzmärkte präventiv zu sichern“. Manch einer, der bereits weiß, dass der deutsche Kolonialismus im Völkermord an den Herero und Nama (1904–1908), geleitet von General Lothar von Trotha, im heutigen Namibia gipfelte, wundert sich vielleicht. Zuvor war im Kaiserreich darüber gestritten worden, ob man den teilweise widerspenstigen* Afrikanern mit „Vernichtung oder vollständiger Unterordnung als rechtlose Arbeitskräfte“ beikommen* solle. Ungefähr 35 Jahre später besiegelte* die Wannsee-Konferenz den Völkermord an den Juden. In Deutsch-Ostafrika verfolgte man um 1910 die „Strategie der verbrannten Erde“, indem man ganze Dörfer in Flammen aufgehen ließ, was nach der Haager Landkriegsordnung von 1907 verboten ist. Als die deutschen Kolonien nach dem Ersten Weltkrieg anderen Nationen zugesprochen wurden, lautete die Begründung der Siegermächte im Versailler Vertrag, unter den Deutschen hätten „extreme Formen der Gewalt vorgeherrscht“. Revisionisten sprachen jedoch von „Koloniallüge“. Einer der Wenigen, die den Kolonialismus prinzipiell verurteilten, war der Kommunist Willi Münzenberg. All das kann der Besucher lesen, aber was sieht er? Afrikanische Skulpturen, Postkarten von Kolonialbeamten und Militärs, Fotos mit Indigenen*, Tropenhelme, Züchtigungsinstrumente*, Kakaodosen der Firma Sarotti einschließlich des „Sarottimohren“*, Fotos von Nachkommen von Kolonialbeamten. Es ist nicht der Blick der Kolonisierten, sondern der der Okkupanten. Und dieser Blick wurde im Laufe der Zeit auch der der Daheimgebliebenen, indem Bücher, Filme und Werbung die Ideologie der „rassischen“ Überlegenheit* aufgriffen. Zu sehen ist beispielsweise ein Plakat für Rasierseife, die ein afrikanischer Junge unterwürfig* einem weißen Kolonialbeamten in Uniform reicht. Weiß steht für rein. Erst 1967 wurde ein Denkmal für den Gouverneur von Deutsch-Ostafrika Hermann von Wissmann vor der Universität Hamburg nach mehreren Anläufen durch Studierende gestürzt. Nicht erfährt man, dass Kaffee und Kakao noch in den 70er Jahren Kolonialwaren und Schaumküsse* „Negerküsse“ hießen.

Die Welt in Deutschland

Koffer, Taschen und Plastiktüten voller Habseligkeiten* und notierter Träume stehen im Vorgarten des Museums Europäischer Kulturen. Geflüchtete wünschen sich Weltfrieden, Arbeit, eine Wohnung, ein „Daheim“ eben. Kommt man ins Museum, sieht man zusammengebaute Betten aus Flüchtlingsunterkünften, die an Zelte oder Boote erinnern. Auf die Frage, ob man sich auf die Betten setzen dürfe, erhält ein Besucher die Antwort, es sei erlaubt, wenn man sich denn unbedingt auf die schmutzigen Matratzen setzen wolle. Warum diese unreiner sein sollten als diejenigen in einem Hotel, bleibt offen. Auf einer Wand gibt es die Abbildung eines Berliner Flüchtlingsheims mit Videos seiner Bewohner und von KUNSTASYL, der für die Ausstellung verantwortlichen Initiative von Künstlern und Asylsuchenden. Man sieht eine mit dem wackelnden Handy aufgenommene Fahrt in einem überfüllten Boot übers Mittelmeer, den zehnseitigen ablehnenden Bescheid* eines Asylantrags, aus Bosnien Fotos von einem früheren Leben mit Sonntagsausflügen, Dorfschönheiten, spielenden Kindern, posierenden Männern. An den Wänden Gedichte, Gedanken, Träume und die Landkarte eines jungen Afghanen – mit all seinen Erlebnissen: Grenzkontrollen, Bombenexplosionen und seinem Traumland, in dem er nicht bleiben durfte. Man erfährt von einem Afrikaner, der eineinhalb Jahre lang der einzige im Flüchtlingsheim war, der Tigrinisch sprach (mit wem wohl?). Und von einer Schwedin, die ihre Heimat 1919 verließ und nach New York auswanderte, weil der Bauernhof die Familie nicht mehr ernährte. Sie war nicht illegal, sie brauchte nicht einmal ein Visum und konnte in den nächsten 30 Jahren mehrmals zwischen den Kontinenten pendeln*.

Es sind Geschichten von Menschen,  die ihr Leben aufs Spiel setzten, um irgendwo so etwas wie ein neues Daheim zu finden, nachdem sie in ihrer Heimat nicht mehr leben konnten. Seien sie Roma, Jesiden, Syrer, Albaner, Bosnier, Afghanen. Menschen in einer globalisierten Welt kommen und gehen. Die einen mit Herrschaftsansprüchen, andere ohne.

 

 

*Lesehilfe

kopfstehen: nervös, nicht mehr in der gewohnten Ordnung sein
kuratieren: konzipieren, organisieren
die Beute: unrechtmäßig erworbenes Produkt
die Verlautbarung: (offizielle) öffentliche Mitteilung
die Verflechtung: (wechselseitige) Beziehung, Abhängigkeit
widerspenstig: sich nicht unterordnend
jdm. beikommen: jdn. gegen seinen Willen unterordnen
besiegeln: abschließend entscheiden
der Indigene: Ureinwohner
die Züchtigung: Bestrafung mit körperlicher Gewalt
der Mohr: altes (heute politisch inkorrektes) Wort für „Schwarzer“
die Überlegenheit: Dominanz, Vorherrschaft
unterwürfig: aus Angst jdm. dienend
der Schaumkuss: runde Süßigkeit aus Eiweißschaum mit Schokoladenüberzug
Habseligkeiten (pl): die einzigen Kleinigkeiten, die man besitzt
der Bescheid: offizielle Mitteilung der Bürokratie
pendeln: hin- und herfahren

 

 

Aufgaben
1. Das Wort „Fremde“ im Untertitel hat zwei Bedeutungen. Welche?
2. Bei welcher Bedeutung des Wortes „Fremde“ ändert sich die Endung, wenn vor dem Wort ein Artikel steht?

 

 

 

 

 

  

 Lösungen

1. 1) fremdes Land, 2) fremde Menschen
2. bei 2) fremde Menschen

 

 

 

 

 

 
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