Zwischen Sehnsucht und Teufelspakt

Eulen nach Athen zu tragen, hieße es, Menschen in Russland etwas von der Freude über den Frühlingsanfang zu erzählen. Aber auch in Deutschland huscht* ein Lächeln über die traurig grauen Wintergesichter, wenn das Eis schmilzt, die ersten Vögel singen und Krokusse in Gelb und Lila aus der Erde sprießen*. Liebesgefühle erwachen, immer wieder jedoch kam es im Frühling auch zu politischen Kapriolen*.

Krokusse auf dem Friedhof für die Märzgefallenen von 1848. / Lucia Geis

Von Lucia Geis

Das Herz geht vielen Deutschen auf, wenn jemand Fausts beglückte Worte „Vom Eise befreit sind Strom und Bäche“ zitiert. Im gleichen Monolog preist* Goethes Held das Dorf im Frühling als des „Volkes wahren Himmel“. Die Begeisterung für die einfachen Dinge steht im Kontext seiner Zweifel am Sinn der wissenschaftlichen Tätigkeit. Schließlich folgt sein Pakt mit dem Teufel. Denn dieser verspricht ihm, seine Sehnsucht nach einer Frau (und einer romantischen Zugehörigkeit zum Volk) zu befriedigen. Ohne dass Goethe es hätte ahnen* können, wird die deutsche Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts voller politischer Sehnsüchte und Sündenfälle* sein, die sich im Frühling ereignen.

Lehrlinge, Handwerker, Arbeiter und Gebildete errichten am 18. März 1848 in Berlin Barrikaden, um für Rede-, Versammlungs- und Pressefreiheit sowie das Wahlrecht zu kämpfen. 270 vom Militär getötete Aufständische im Alter zwischen 12 und 74 Jahren – sogenannte Märzgefallene – zählt man danach. Während der vier Tage später stattfindenden öffentlichen Trauerfeier sieht sich König Friedrich Wilhelm IV. veranlasst*, seinen Hut zu ziehen und damit sein Beileid zu bekunden*. Beigesetzt* werden die Märzgefallenen auf einem schnell im Volkspark Friedrichshain angelegten Friedhof, der bis heute der deutschen Linken als symbolträchtiger Ort gilt. Der Maler Adolph Menzel verewigt* das Begräbnis, der Dichter Ferdinand Freiligrath schreibt ein Gedicht für die Revolutionäre.

Generäle und Angsthasen

Als dann 70 Jahre später die erste deutsche Demokratie geboren wird, stehen ihr von Anfang an viele Feinde gegenüber – vor allem Deutschnationale, Militärs und bald schon nationalsozialistische Gruppierungen. Auch deren nostalgische Sehnsüchte sollten im Frühling ausbrechen. Am 13. März 1920 putschten* in mehreren deutschen Städten ewig Gestrige und enttäuschte Soldaten um den Weltkriegs-General Erich Ludendorff und den Anführer der
„Nationalen Vereinigung“ Wolfgang Kapp gegen die noch junge Republik. In Panik flohen zahlreiche Minister aus Berlin, in der Stadt herrschten bürgerkriegsähnliche Zustände. Reichspräsident, SPD und KPD riefen zum Generalstreik auf, der sich zum größten der deutschen Geschichte entwickelte. Auch wenn der Spuk* nach 100 Stunden vorbei war, hatte der Kapp-Putsch das Land verändert: Eine neue Regierung trat ins Amt, zahlreiche Forderungen der rechten Kräfte wurden umgesetzt, Hakenkreuze waren in den öffentlichen Raum eingezogen. Den Opfern der Putschisten gedachte die Republik trotzdem vier Jahre später in Weimar mit einem Denkmal des berühmten Bauhaus-Architekten Walter Gropius. Die Nazis zerstörten es 1936.

Da war die Demokratie schon seit drei Jahren abgeschafft und Hitler endgültig etabliert. Nach der Reichstagswahl vom 5. März 1933 hatte auch der letzte Demokrat verstanden, dass die Freiheit der Vergangenheit angehörte. Und erneut sprach man von Märzgefallenen: Diesmal waren es keine Revolutionäre, sondern diejenigen, die in Massen ängstlich ihr Fähnlein nach dem Wind drehten*, indem sie in die NSDAP eintraten und dadurch ihre Seele an den Teufel verkauften.

Was der Berliner jüdische Autor Franz Hessel noch in der späten Weimarer Republik erlebt hatte, war nun nicht einmal mehr vorstellbar: Im Berliner Sportpalast, berühmt für seine Sechstagerennen*, war es für Rechte wie Linke selbstverständlich, ihre jeweiligen Idole zu feiern. Unterscheiden konnte sie dieser bürgerliche Intellektuelle nach eigenen Worten nur aufgrund ihrer „Abzeichen, Orden der Reaktion oder Revolution“. Am selben Ort schrie Goebbels sich 1943 die Zustimmung der Deutschen zum „Totalen Krieg“ herbei. Da war Hessel, den seine französische Frau zum Exil erst hatte überreden können, als das Höllenfeuer in Deutschland längst lichterloh* brannte, bereits an den Folgen seiner Internierung in einem französischen Lager der Nazis gestorben.

Bürgerrechtler und Rechte

Dass auch die friedliche Revolution in der DDR, die im Herbst 1989 zum Mauerfall führte, ihren Anfang im Frühling desselben Jahres hatte, wird oft vergessen. Seit März riefen Bürgerrechtler dazu auf, die Kommunalwahlen im Mai als Farce zu entlarven*. Gut 150 Jahre nach den Kämpfen auf brennenden Barrikaden gegen die Obrigkeit* versuchten sie von der ihnen gesetzlich garantierten Möglichkeit, an der Stimmauszählung teilzunehmen, Gebrauch zu machen. Die schließlich tatsächlich bewiesene Wahlfälschung brachte das Fass zum Überlaufen*, sodass fortan Bürger der DDR einmal monatlich demonstrierten. Während 1848 der Revolutionsdichter Freiligrath nach dem Scheitern* des Aufstands (für Bismarck waren diese Märzgefallenen „Mörder“ und „Verbrecher“) verhaftet wurde, kapitulierte die politische Elite der DDR. Nach der Wende verurteilten Gerichte einige ihrer Köpfe wegen Wahlfälschung.

Der politische Frühling, der Deutschland zurzeit verändert, ist der arabische Frühling, in dessen mittelbarer Folge viele Menschen nach Deutschland kommen. Diese Fluchtbewegung hat am 13. März bei den Landtagswahlen in Sachsen-Anhalt, Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz ein politisches Erdbeben herbeigeführt: Mehr als eine Million Menschen gab der neuen rechtspopulistischen Partei AfD ihre Stimme, sodass sie in die drei Parlamente eingezogen ist. Die Konsequenzen all dieser Teufelspakte sind offen.

 

 

 

 

*Lesehilfe
huschen: kurz, kaum sichtbar erscheinen
sprießen: (anfangen zu) wachsen
die Kapriole: Eskapade, unerwartete Entwicklung
preisen: loben
ahnen: vermuten, voraussehen
der Sündenfall: ursprünglich christlicher Begriff; heute: Verletzung eines Tabus durch würdeloses Verhalten
sich zu etwas veranlasst sehen: glauben, dass man es tun sollte
sein Beileid bekunden: sein Mitgefühl ausdrücken
beisetzen: beerdigen
verewigen: unsterblich machen
putschen: mit Militär versuchen, das Staatsoberhaupt, die Regierung zu entmachten
der Spuk: etwas Unheimliches
sein Fähnlein nach dem Wind drehen: sich opportunistisch verhalten
das Sechstagerennen: Berliner Fahrradrennen, das sechs Tage dauert
lichterloh: sehr stark (man kann das Feuer nicht mehr löschen)
entlarven: das Wahre zeigen
die Obrigkeit: staatliche Macht, die Gehorsam verlangt
das Fass zum Überlaufen bringen: etwas wird so viel, dass man sich wehrt
das Scheitern: Misslingen

 

 

Aufgaben
1. Welches Adjektiv passt zu den Märzgefallenen von 1848?
a) ängstlich b) opportunistisch c) freiheitsliebend

2. Welche grammatische Eigenschaft der Position 1 eines Aussagesatzes zeigt die Formulierung „Beigesetzt wurden die Märzgefallenen“?

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

  Lösungen

 

1. c 2. Alles außer dem konjugierten Verb kann auf der Position 1 stehen, auch ein Partizip.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Tolles Diktat 2024
 
Подписаться на Московскую немецкую газету

    e-mail (обязательно)

    Добавить комментарий

    Ваш адрес email не будет опубликован. Обязательные поля помечены *