Schwestern zum Reichtum, zur Spitze*

Seit 2016 gilt für die Aufsichtsräte* der etwa 100 größten deutschen Unternehmen eine gesetzliche Frauenquote von 30 Prozent. In kleineren Betrieben darf ihre Höhe (von den Männern) selbst definiert werden. Grund dieser Regelung ist die mangelnde Gleichstellung von Frauen und Männern in Deutschland. Frauen verdienen weniger, kümmern sich mehr um Haushalt und Kinder und haben weniger Einfluss, Macht und Geld.

Von Lucia Geis

Wird an hohen deutschen Feiertagen stolz auf die Erfolgsgeschichte des deutschen Grundgesetzes verwiesen, geht das nie, ohne seine „Väter“ zu loben. Und damit fängt die Ungerechtigkeit schon an. Im Parlamentarischen Rat, der 1948 mit der Formulierung einer deutschen Verfassung beauftragt* worden war, saßen neben 61 Männern nämlich auch vier Frauen. Und zumindest zwei von ihnen haben ganz in der Tradition von Clara Zetkin und Rosa Luxemburg gekämpft. Den beiden Sozialdemokratinnen Elisabeth Selbert und Friederike Nadig und ihrer Aktivierung von Frauenverbänden, Kommunalpolitikerinnen und Betriebsrätinnen* ist es zu verdanken, dass der Satz „Männer und Frauen sind gleichberechtigt“ 1949 zu Artikel 3, Absatz 2 des Grundgesetzes wurde, auch wenn man das Ehe- und Familienrecht erst in den folgenden Jahrzehnten diesem Grundsatz anpasste. (Die Verfassung der DDR formulierte das Gleichberechtigungsprinzip in Artikel 7).

Damit ist die Frauen-Nachkriegsgeneration aufgewachsen. Und dennoch sah der West-Alltag anders aus. Für den geburtenstärksten* Jahrgang 1964 gab es kaum Kindergartenplätze. Wozu auch, waren doch die Mütter für das Wohlbefinden der Familie verantwortlich und insofern zu Hause. Wollte eine Mutter arbeiten, brauchte sie die Erlaubnis des Ehemannes, und hatte sie diese, wurde sie als Rabenmutter* bezeichnet, die ihre Kinder vernachlässigte*. In Schulklassen galten arbeitende Mütter als bemitleidenswert, denn ihre Ehemänner verdienten offensichtlich nicht genug. Die Frauen fügten* sich. Wenn überhaupt, hatten sie ein sogenanntes „Pudding-Abitur“, das in den 50er Jahren für Mädchen eingeführt worden war: Hauswirtschaft statt Latein und Griechisch. Noch 30 Jahre später mussten Gymnasiastinnen sich sagen lassen, zu einem Abitur in Physik seien sie nicht in der Lage. GermanistikStudentinnen wurden als zukünftige Ehefrauen von Maschinenbauern begrüßt, und Texte von Else Lasker-Schüler und Christa Wolf fristeten in sogenannten Frauenseminaren eine Randexistenz*.

Mit der Wiedervereinigung gab es plötzlich Millionen deutscher Frauen und Kinder, die es völlig normal fanden, dass Mütter studieren, Geld verdienen, Vorgesetzte* sind (bevor sie dann im Kapitalismus als erste arbeitslos wurden). Noch in der Diskussion um den gesetzlichen Anspruch* auf einen Kindergartenplatz für unter Dreijährige 2013 führte diese sozialistische Tradition zum Streit, da Konservative, vor allem aus den christlichen Parteien, sie für schädlich hielten. Deshalb setzte die CSU einen finanziellen Ausgleich – von Kritikern „Herdprämie“ genannt – für die Eltern durch, die ihre Kinder lieber zu Hause erzögen.

An Weiberfastnacht schneiden Frauen Krawatten als Symbole der Männermacht ab und verteilen stattdessen Küsschen. / Kürschner (talk)

Vor solchem Hintergrund ist erfreulich, dass Parteien aller Couleur ihren Frauenanteil erhöhen beziehungsweise auf 50 Prozent festgelegt haben, und Kanzlerin Merkel durch lange Überzeugungsarbeit der SPD-Bundesministerin für Frauen- und Familienfragen Manuela Schwesig 2015 einsah, die Wirtschaft wenigstens zu irgendeiner Quote zwingen zu müssen, da eine freiwillige Vereinbarung zu nichts geführt hatte. Trotz prompter* Warnungen aus konservativen Kreisen vor Gleichmacherei* und einem Eingriff in die unternehmerische Freiheit wurde die Frauenquote schließlich eingeführt. Ob all das letztlich nicht nur Symbolpolitik ist, bleibt solange unbeantwortet wie niemand erklärt, warum in Führungspositionen allüberall Männer dominieren. Einen Mangel an weiblicher Intelligenz und Ehrgeiz kann angesichts der Zahl der Akademikerinnen kein Mann verantwortlich machen. Vielleicht will frau* einfach erst dann an die Spitze, wenn sie dort nicht mehr die einzige ist. Denn wie Männer über Frauen an der Spitze reden, ist allzu oft zu lesen: „Die Welt“ sprach von der reichsten Deutschen als „listiger* Witwe“. Angela Merkel wird zwar seit ihrem Amtsantritt 2005 als mächtigste Frau der Welt geehrt (und promovierte Physikerin ist sie auch noch). Schaut man sich die Fotos von Gipfeltreffen an, sieht man aber gleich: Sie ist oft auch die einzige (und als solche ist man schnell die mächtigste). Da in der DDR der Internationale Frauentag hochgehalten wurde, hat vielleicht ihre ostdeutsche Herkunft sie dazu prädestiniert*.

Die selbstverständliche Vereinbarkeit* von Kindern und Karriere, die sich viele Frauen genauso wie Männer wünschen, ist in der Bundesrepublik allerdings weiterhin ein Problem. Denn erstere verbringen doppelt so viel Zeit mit Hausarbeit und Kindererziehung wie ihre männlichen Zeitgenossen. Um das zu ändern, wäre nicht nur die Politik gefordert, sondern alle (Männer).

ZAHLEN

Herrschaft ist männlich

Studienanfängerinnen: 49,8%

Doktorandinnen: 45,5%

Lehrstuhlinhaberinnen: 16,5%

Bürgermeisterinnen: 9,2%

CDU/CSUBundestagsabgeordnete: 76 Frauen, 234 Männer

Vorstand der Deutschen Bank: 1 Frau (eine zweite soll im Laufe des Jahres hinzukommen), 8 Männer

Frauenanteil in Führungspositionen: seit 2014 unverändert 29% (EU-Durchschnitt: 33%)

Menschen, die schwerkranke Verwandte pflegen: 65–70% weiblich

Auf den 10 ersten Plätzen der reichsten Deutschen stehen 2 Frauen.

 

 

 

*Lesehilfe

 

Schwestern zum Reichtum, zur Spitze: Anspielung auf: „Brüder, zur Sonne, zur Freiheit“, die Nachdichtung des Liedes „Smelo, towarischtschi, w nogu!“

der Aufsichtsrat: Gremium zur Kontrolle des Vorstands (der Unternehmensführung in Aktiengesellschaften) beauftragen: einen Auftrag geben

der Betriebsrat: gewählter Vertreter bzw. gewählte Vertretung der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in einem Betrieb

geburtenstark: mit vielen Geburten

die Rabenmutter: schlechte Mutter

vernachlässigen: sich nicht kümmern

sich fügen: widerwillig akzeptieren, sich unterordnen

eine Randexistenz fristen: für unwichtig gehalten werden

die/der Vorgesetzte: im Betrieb Höhergestellte(r)

der gesetzliche Anspruch: einklagbare Garantie des Staats

prompt: unmittelbar danach, wie erwartet

die Gleichmacherei: Behandlung von Ungleichem als Gleichem

frau: Pronomen, das die Frauenbewegung benutzt, um deutlich zu machen, dass auch die Sprache (z. B. in dem Pronomen „man“) patriarchalisch ist

listig: schlau, raffiniert

prädestiniert: besonders geeignet

die Vereinbarkeit: Möglichkeit, Verschiedenes zu kombinieren

 

 

 

 

Aufgaben

 

1. Welches Wort ist nicht typisch für Westdeutschland:

a) Rabenmutter,

b) „Pudding-Abitur“,

c) Herdprämie?

 

 2. Warum ist der Begriff „Frauenseminar“ dumm?

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Lösungen

 1.2. Literatur von Frauen ist nicht nur für Frauen, und es gibt auch keine Männerseminare.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

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