Arbeiterkampf und Hexentanz

Wenn der 1. Mai auf einen Sonntag fällt, freut sich niemand außer den Arbeitgebern. Denn der Tag der Arbeit ist in Wahrheit ein Tag der Nichtarbeit, den nur eine verschwindende Minderheit* zum Kampf für die Interessen der Lohnabhängigen nutzt. Eine Mehrheit will vor allem ausschlafen – nicht zuletzt vom heidnischen* Treiben der Walpurgisnacht.

Von Lucia Geis

Als die DDR-Autorin Christa Wolf kurz vor dem Mauerfall bei einer Demonstration auf dem Berliner Alexanderplatz die oppositionelle Parole „1. Mai – die Führung zieht am Volk vorbei“ zitierte, jubelte* das Volk des Arbeiter- und Bauernstaates. Realität wurde ein solcher Zug nie. Auch nicht im wiedervereinigten Deutschland. Denn das mächtige Gespenst, das in Deutschland wie in Europa umgeht, war und ist anders als von Marx und Engels 1848 behauptet, nicht „das Gespenst des Kommunismus“, sondern das des Kapitalismus. Der revolutionäre Elan* des Herbstes 1989 schlug sehr schnell in den Wunsch nach Teilhabe an der schönen neuen Konsumwelt um. Und die provokanten Parolen ersetzte die Masse am Brandenburger Tor während ihres Wiedervereinigungstaumels* durch das keuchend* hervorgestoßene „Wahnsinn“. Dass Bundeskanzler Helmut Kohl ein paar Monate später mit seinem Versprechen von den „blühenden Landschaften“ – also dem geradezu paradiesischen Aufschwung* in der ehemaligen DDR – die Wähler im Osten mehrheitlich dazu brachte, ihm seine Stimme zu geben, kann da niemanden wirklich überrascht haben. Das Volk, das sich im Oktober 1989 noch von der Idee freier Gewerkschaften begeistert gezeigt hatte und in den ersten Monaten nach der Wiedervereinigung die Mitgliederzahlen im Deutschen Gewerkschaftsbund (DGB) von knapp 8 Millionen auf knapp 12 Millionen anschwellen* ließ, kehrte dem DGB ebenso schnell wieder den Rücken. Heute bringt klassenkämpferisches Bewusstsein kaum noch jemanden auf die Plätze. Trotz Kinderhüpfburgen* und Bier- und Bratwurstständen versammelten sich in Berlin 2015 zur zentralen 1. Mai-Kundgebung* des DGB gerade mal 20 000 Menschen.

Helmut Kohls Slogan der „blühenden Landschaften“ dürfte so erfolgreich gewesen sein, weil er nach einer bunten, harmonischen, freundlichen Natur, die ihr Füllhorn* gerecht über jedem ausschüttet, nach zyklischer Fruchtbarkeit und nicht nach blutig unberechenbarem Kampf klang. Kohl bediente sich damit einer Sprache, die an die andere mit dem 1. Mai verbundene Tradition erinnert: die Walpurgisnacht.

Fruchtbarkeitssymbol: traditioneller Maibaum bei Köln. / Koelner50, Hans Burgwinkel

In dieser Nacht werden bis heute heidnische Rituale zelebriert. Ziel dieser Bräuche ist die Vertreibung böser Geister (die Heilige Walburga gilt als Schutzheilige gegen Pest und Tollwut*), wozu man mit Peitschen* knallt und Besen in die Höfe legt. Außerdem werden frische Birken als Symbol der Fruchtbarkeit auf den Dorfplätzen aufgestellt oder von jungen Männern ihrer Liebsten ans Fenster gesteckt und reinigende Mai- und Hexenfeuer entzündet. Danach geht es zum Tanz. Die Botschaft all dessen ist eindeutig: Nur Mut, alles wird gut!

Zu den berühmtesten heutigen Maifeiern zählen die Hexennächte im Harz. Der Gipfel* dieses deutschen Mittelgebirges heißt im Volksmund „Blocksberg“. Ob dieser Name auf den Ausdruck „Block“ für das Hexenwesen zurückgeht oder nicht, ist unsicher. Sicher ist jedoch, dass ein Berg, der an 300 Tagen im Jahr im Nebel liegt, düstere Fantasien heraufbeschwört*. Nichts aber vertreibt die Angst besser als rauschender Tanz bis zum Tagesanbruch. Und so verkleiden sich in der Nacht zum 1. Mai viele Harzgäste als Hexen. Scheinbar identifizieren sie sich mit diesen angstmachenden Angreiferinnen, die die Kirche einst auf Scheiterhaufen* verbrannte. In Wahrheit jedoch nehmen sie ihnen durch das närrische Spiel ihre Bedrohlichkeit und Macht – sowie sich selbst die Kraft für die Kundgebungen am nächsten Tag. Allerdings spricht auch nichts gegen Ausschlafen, denn das Gespenst des Kommunismus ist inzwischen durch Identifikation der Arbeiter mit dem Kapital so harmlos geworden wie ein Che-Guevara-T-Shirt. Wozu sollte man da noch kämpfen? Vielleicht um zu verhindern, dass neue Hexen verbrannt werden.

 

 

 

*Lesehilfe
die verschwindende Minderheit: sehr kleiner Anteil
heidnisch: vorchristlich
jubeln: laut seine Freude zeigen
der Elan: Schwung, Kraft
der Taumel: rauschhafter Zustand
keuchend: schwer atmend (sprechen)
der Aufschwung: ökonomische Verbesserung
anschwellen: dicker, größer, lauter werden
die Kinderhüpfburg: aufblasbare riesige Kissen
die Kundgebung: öffentliche politische Rede
das Füllhorn: aus der antiken Mythologie stammendes Bild für Überfluss
die Tollwut: auf den Menschen übertragbare gefährliche Tierkrankheit
die Peitsche: Lederriemen zum Antreiben von Tieren
der Gipfel: Spitze eines Berges
heraufbeschwören: verursachen, provozieren
der Scheiterhaufen: (im Mittelalter) Holz für die öffentliche Verbrennung von Menschen

 

 

Aufgaben
1. Warum ist die Parole „1. Mai – die Führung zieht am Volk vorbei“ provokant?
2. Worauf bezieht sich Helmut Kohls Slogan von den „blühenden Landschaften“:
a) den 1. Mai; b) den Frühling im Harz; c) die Entwicklung in der ehemaligen DDR?

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 Lösungen

 

1. In der DDR zog bei den Paraden zum 1. Mai das Volk immer an den Staatschefs vorbei. 2. c

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

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