ZEITreise durch die deutsche Demokratie

Mit dem Ende des Zweiten Weltkrieges brach in Deutschland zum zweiten Mal innerhalb von zwölf Jahren die Presselandschaft zusammen. Die Alliierten stellten die von den Nationalsozialisten gleichgeschalteten* Zeitungen ein* und vergaben stattdessen Lizenzen für Neugründungen. Am 21. Februar 1946 erschien in Hamburg die Erstausgabe der überregionalen Wochenzeitung die ZEIT.

Von Lucia Geis

Die Begriffe und Redewendungen seien es, durch die den Deutschen die nationalsozialistische Ideologie in „Fleisch und Blut“ übergehe. So Victor Klemperer, Professor für Sprach- und Literaturwissenschaft an der Technischen Hochschule Dresden, von der er 1935 wegen seiner jüdischen Herkunft entlassen wurde. Obwohl im Versteck lebend sammelte und analysierte er in den Jahren danach alle sprachlichen Erzeugnisse der Nationalsozialisten, die er finden konnte. Klemperer schrieb: „“Mein Kampf“, die Bibel des Nationalsozialismus, begann 1925 zu erscheinen, und damit war seine Sprache in allen Grundzügen buchstäblich fixiert. Durch die „Machtübernahme“ der Partei wurde sie 1933 aus einer Gruppen- zu einer Volkssprache.“ Seine Sammlung kam unter dem Titel „LTI“* 1947 in der DDR in die Buchhandlungen, in der BRD erst 1966. Wer sie liest, erschrickt, denn die antiintellektualistischen, biologistischen und antidemokratischen Spuren dieser Sprache scheinen bis heute in Begriffen wie Weltanschauung, Organ und Organisation oder Totalität auf*.

Vor diesem Hintergrund wird verständlich, warum alle Alliierten den Zeitungsmarkt kontrollieren wollten. Denn die bestehenden Zeitungen hatten sich inhaltlich wie sprachlich als Propagandainstrumente der Nationalsozialisten diskreditiert. Im zuerst befreiten Aachen konnte man bereits im Januar 1945 eine amerikanisch beaufsichtigte* und zensierte Zeitung lesen. Im Mai folgte in Berlin die antifaschistische „Berliner Zeitung“ mit dem nach Klemperers These symptomatischen Zusatz „Organ des Kommandos der Roten Armee“, im Februar 1946 dann im britisch besetzten Hamburg die Wochenzeitung die ZEIT. Deren Autoren beschäftigten sich mit brandheißen Themen wie dem Kohlemangel, dem Drama „Antigone“, Flüchtlingen und dem Wort „Arier“. Gerd Bucerius, einer
der vier Herausgeber und Gründer, erörterte* die neue Parteienlandschaft. Alle Artikel sind im digitalen Archiv der Zeitung nachzulesen. Bis heute gilt das Blatt als eines der wichtigsten deutschen Presseorgane (!) und hat inzwischen selber eine bewegte Geschichte erlebt.

Die Ostpreußin und der Nazi

Die ZEIT-Redaktion im Hamburger Helmut-Schmidt-Haus (1938 für das nationalsozialistische Hamburger Tageblatt gebaut). / David Kostner

Zu den Mitarbeitern gehörte fast von Anfang an die aus Ostpreußen geflohene Marion Gräfin Dönhoff (Chefredakteurin 1968 bis 1972, Mitherausgeberin 1973 bis 2002), die trotz ihres persönlichen Schicksals und ihrer Abstammung ein liberaler Freigeist war und sich für die Versöhnung* mit Osteuropa einsetzte. Ihre Überzeugungen führten bald zu Konflikten mit einigen Kollegen. 1954 veröffentlichte der rechtskonservative Mitherausgeber Richard Tüngel einen Artikel des NS-Staatsrechtlers Carl Schmitt, woraufhin Dönhoff die Zeitung verließ. Tüngel musste schließlich gehen, die Gräfin kehrte zurück, obwohl das nächste Kuckucksei* schon ahnend. Aus London hatte sie Bucerius geschrieben, „ausgerechnet* Ernst Krüger“ sei geblieben. Bis zu seiner Pensionierung 1956 publizierte dieser Ernst Krüger in der ZEIT zum Thema internationale Politik. Erst 2006 wurde er als SS-Generalmajor Erwin Ettel enttarnt*, der zum Diplomaten des Dritten Reiches aufgestiegen in Palästina, Kolumbien und Italien NS-Organisationen aufgebaut oder geführt hatte. Klemperers Nachkriegsprognose, der Begriff der „Entnazifizierung“ würde bald der Vergangenheit angehören, bestätigte sich über 50 Jahre später nicht zum ersten Mal: Nach dem schnellen Abschluss der Überprüfung durch die Alliierten waren in der restaurativen Adenauer-Zeit einige dicke Fische* durchs Netz gegangen*.

Der Gründer und der Ex-Kanzler

Seit den 60er Jahren ist die ZEIT auf einem liberalen Kurs. Politische Skandale blieben aus. Nur eine Anekdote, über die die halbe Republik lachte und die zum Rauswurf* des Feuilleton-Chefs Fritz J. Raddatz führte, sei erzählt. Dieser präsentierte in einem Artikel zur Frankfurter Buchmesse 1985 eine angeblich von Goethe stammende Beschreibung des dortigen Bahnhofs. Das Zitat – freilich frei erfunden, denn die erste deutsche Eisenbahn fuhr erst nach des Meisters Tod – erschien und Bucerius tobte*. Dem Erfolg der ersten deutschen Nachkriegs-Wochenzeitung hat es nicht geschadet.

Während deutsche Tageszeitungen seit Jahren Leser verlieren, konnte die ZEIT ihre Auflage zwischen 2000 und 2014 trotz ihrer langen komplexen Texte von knapp 450 000 auf über 500 000 steigern und gleichzeitig seit 1996 erfolgreich einen Online-Bereich aufbauen. Daneben werden Sonderhefte zu Literatur, Geschichte und Wissen publiziert.

Gründer Bucerius fühlte sich auch außerhalb der Zeitung diesen Themen immer verpflichtet und rief bereits 1971 eine Stiftung ins Leben, die sich seitdem für das Hamburger Literaturhaus engagiert, das Bucerius Kunstforum betreibt sowie eine private Hochschule für Jura finanziert. In solcher Verantwortung hatte er schon in seinem Artikel für die Erstausgabe die Chance der zukünftigen deutschen Demokratie gesehen: in der „Achtung* fremder Anschauungen (…) in vertrauensvoller Zusammenarbeit mit allen Menschen guten Willens“.

Insofern hatte Bucerius in Bundeskanzler a. D.* Helmut Schmidt, den er nach dessen Rückzug aus der Politik zum Mitherausgeber berief, natürlich einen Bruder im Geiste gefunden. Beide (und auch Dönhoff) hatten die LTI miterlebt, vielleicht war sie auch ihnen in Fleisch und Blut übergegangen. Zur Befreiung der Deutschen von dieser Sprache und Ideologie haben sie in jedem Fall beigetragen.

 

 

 

 

 

*Lesehilfe
gleichschalten: unabhängige Institutionen zu Instrumenten des Staats machen (während der NS-Zeit waren dies vor
allem Medien, Bildung, Justiz)
einstellen: schließen
LTI: Lingua Tertii Imperii (Lateinisch): die Sprache des Dritten Reiches; Klemperer bezeichnet so die Sprache dieser Zeit.
aufscheinen: sichtbar werden
beaufsichtigen: bewachen, auf jdn. aufpassen
erörtern: diskutieren
die Versöhnung: gegenseitige Anerkennung nach einem Konflikt oder Unrecht

das Kuckucksei: etwas, das falsch ist und deshalb nicht dazu gehört (immer negativ)
ausgerechnet: leider gerade
enttarnen: etwas versteckt Gehaltenes entdecken
dicke Fische: wichtige Täter

durchs Netz gehen: entkommen
der Rauswurf: Entlassung nach einem Streit
toben: (hier) sehr wütend sein
die Achtung: der Respekt
a. D.: außer Dienst, ehemalig

 

 

 

 

Aufgaben
1. Warum wollten die Alliierten 1945 neue Zeitungen?
2. Inwiefern war Ernst Krüger ein Kuckucksei?
3. Feuilleton-Chef Fritz J. Raddatz wurde entlassen wegen
a) einer Nazivergangenheit;
b) sinkender Auflage;
c) eines erfundenen Zitats?

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 Lösungen

 

1. Die existierenden Zeitungen waren Propagandainstrumente der Nazis. 2. Er war ein unentdeckter Nazi. 3. c

 

 

 

 

 

 

 

 

 
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