Loops*, Lolitas, Labyrinthe

Seit 1964 findet Ende Mai das Berliner Theatertreffen statt, für das eine Jury die zehn „bemerkenswertesten” Theaterproduktionen aus dem deutschspra-chigen Raum auswählt. Heute ist es eine Mammutveranstaltung mit Stipendiatenprogrammen, Konferenzen, Filmen und Partys.

„Die Borderline Prozession”. Männer und andere Krisen / Marcel Schaar

Von Lucia Geis

Wer glaubt, sich beim Theatertreffen seines mühselig angelesenen bildungsbürgerlichen Kanons ver-sichern zu können, sollte zu Hause bleiben. Auch der Wunsch, allseits bekannte Regie- und Schauspielstars aus den berühmten Theatern entlang großer ICE-Trassen beklatschen zu können, wird zunehmend weniger erfüllt. Stattdessen werden die Besucher in Welten katapultiert, in denen Wohlbefinden nur noch als Selbstbetrug existiert und – wie Juror Till Briegleb sagte – „Alpträume von der Rückkehr überwunden geglaubter Gewaltpolitik” reflektiert werden.

Gott ist ein DJ*

18.30 Uhr, Bahnhof Berlin Schöneweide. Es stinkt nach Urin. Vor dem Bahnhof grölen* Alkoholiker und an der Ampel stehen kahlgeschorene* Männer mit Kampfhunden. Theatergänger verirren sich nicht freiwillig hierhin. Aber die Produktion „Die Borderline Prozession” des Dortmunder Schauspielhauses lagerte man aus technischen Gründen in eine alte Industriehalle am östlichen Stadtrand aus. Wo einst Transformatoren produziert wurden, erlebt der Zuschauer nun eine um sich kreisende Bilderwelt, drei Stunden lang, ganz wörtlich: Eine Kamera auf einem Wagen (das Programmheft spricht vom „behinderten Gott”) fährt um einen Kubus mit zehn Mittelschichtswohnräumen und der davon getrennten Außenwelt mit Bushaltestelle und Kiosk. Die Zuschauer sehen jeweils eine dieser Welten direkt, die andere ausschnittsweise in Projektionen. Darin findet statt: Die ewige Wiederkehr des normal banalen Alltags in minimalen Variationen. Das Theater hat von den Loops der DJ-Kultur gelernt. Auch auf der sprachlichen Ebene kreist das Projekt in Schleifen aus Textsplittern* um Begriffe wie Teilen und Vereinen, Schöpfung und Kopie, Bild und Deutung, These, Antithese und Synthese. Im Sinne Hegels bildet Teil 2 des Abends die Antithese in Form einer Krisensituation, für die Regisseur Kay Voges an Georg Grosz erinnernde Schreckensbilder zeigt.

Wie lässt sich das weitererzählen? Kann Theater in Zeiten der Flut an Heilsversprechen* und pausenlos produzierten Untergangsszenarien eine Synthese wagen? Als dann eine Schar Lolitas auftritt, scheint alles klar: Langeweile und Schrecken folgen Trash* und Farce. Aber es ist mehr. Während die Lolitas sich ihrer eigenen Lust hingeben, steigert sich eine Napoleonsfigur bis zum Infarkt in ein Manifest des Künstlers Jonathan Meese* hinein, der diesen Frauentypus für „konsenslos, vital und zukunftsfähig” hält, voraus-gesetzt Männer vom Schlag* eines Napoleons mit ihrem Machtgebaren* werden nicht wiederbelebt.

Zurück am Bahnhof Schöneweide erlebt der Theatergänger angesichts der immer noch selben Gestalten, dass (hier) die Realität anders als der Theaterabend im ewig gleichen Loop verharrt* und in der Tat dumpfe*, für überwunden geglaubte Männlichkeitsrituale die Schreckensbilder der Krise sind.

Der blaue Stuhl

Um Rituale geht es ein paar Tage später auch bei „Fin de Mission / Ohne Auftrag leben”, einer deutsch-kamerunischen Koproduktion. Sie ist Teil der neuen, zusammen mit dem Goethe-Institut organisierten Reihe „Shifting Perspectives”. Auf einer Bühne voller Plastikstühle made in China, wie sie in der ganzen Welt zu finden sind, beginnt „Fin de Mission” mit barocken Tänzen und Musik aus Monteverdis Oper „Orfeo”, in der Eurydike ein Boot Richtung Unterwelt besteigt. Aus Kamerun startete im gleichen Jahr 1607 ein Boot, das die Ware Mensch in die Sklaverei brachte.

Die Performance erzählt einerseits von einer Enteignung in zwei Schritten, während derer Leben, Kultur und Sprache entweiht* und dann durch eine europäische Geschichtsschreibung überschrieben wurden. Und andererseits von einer möglichen Wiederaneignung. In Toten-, Klage- und Arbeiterliedern wird die eigene Geschichte freigelegt, durch Erzählungen der Dschungel und das Bla-bla über dem Sklavenhafen Bimbia gelichtet. Dass das Eigene sich in der globalisierten Welt zynischerweise in blauen Plastikstühlen, wie China sie nur für Kamerun herstellt, verkörpern könnte, erlebt der Zuschauer in einer der berührend-sten Szenen. Von Beginn an stellt das Stück in einer Art Tribunal die Frage nach den Verantwortlichen heute und entlarvt die Rückgabe von in europäischen Museen ausgestellter geraubter Lebenswelt als untaugliche* Geste. „Fin de Mission” setzt die Forderung eines Rituals der Performanz* dagegen. Und ist damit im Theater, in dem in der Begegnung das archaische Ritual des Erzählens und Behauptens wie in einem Loop immer wieder stattfindet, am richtigen Ort.

Draußen stößt der Zuschauer auf ein Labyrinth von aus rohem Holz gezimmerten Sitzbänken, an dem kein Weg vorbeiführt. Man soll sich begegnen, ins Gespräch kommen. Man spricht über Liebe und Karriere und ein Raucher fragt nach einer Zigarette. Dass sich daraus ein Gespräch über Theater als Gegenentwurf zu einer auf Produktion und Akkumulation gerichteten Welt, als Ort notwendiger Verschwendung* ergibt, gehört zum Luxus des UNESCO Weltkulturerbes Theaterlandschaft in Deutschland. Vielleicht ahnt das inzwischen auch Berlins Regierender Bürgermeister Michael Müller, der zur Verleihung des Theaterpreises an Herbert Fritsch nicht erschien. Vielleicht versteht er, dass die von ihm im Handstreich* entschiedene Auflösung der Volksbühne, an der Fritsch genau solche Gegenwelten schaffen konnte, für die Theaterlandschaft ein Alptraum ist.

 
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