Licht im Dunkel

Von Paradiesen, dummen Fragen, Quadraten und Clubs. Im Februar wird es gefährlich. Die Stimmung sinkt, die Aggressivität steigt. Die schlechte Februarlaune der Berliner ist sprichwörtlich. Angeblich weil es schon zu lange zu grau ist und die Nächte den Tag verschlucken. Dabei birgt* die Nacht faszinierende Geheimnisse.

ewar woowar

ewar woowar

Von Lucia Geis

Am ersten Tag erschuf Gott das Licht. Im Dunkeln hätten Adam und Eva den Apfel im Paradies vermutlich nie entdeckt. Zum Licht gehört somit der Zwang sich zu entscheiden: Würden die ersten Menschen das göttliche Verbot respektieren oder der Verlockung* und ihrem Begehren* nachgeben? Der Ausgang ist bekannt: Adam und Eva fühlten sich entblößt*, die Schuld – absurderweise fortan mit dem Dunkel identifiziert – war in der Welt. Die deutsche Sprache kennt Schwarzmaler, Schwarzarbeiter, Schwarzfahrer. Denjenigen, dem man böse Absichten unterstellt*, bezeichnet man als dunkle Gestalt. Städteplaner schlagen in der zur Zeit in Deutschland geführten Diskussion über eine Ausweitung der Videoüberwachung vor, dunkle Räume in den Städten stattdessen auszuleuchten.

Die Aufklärung (engl. enlightenment) ermutigte den Menschen, seinen eigenen Verstand zu benutzen, also frei von dunklen Mächten zu entscheiden. Als schließlich das künstliche Licht erfunden wurde, konnte der Mensch der Moderne zum Nachtmenschen werden, ja sogar sein Leben in die Nacht des öffentlichen Raums verlegen. Das Nachtleben entstand paradoxerweise mit dem Ende der Nacht, nämlich mit ihrem Hellwerden. Aus der Angst im Dunkeln entwickelte sich der Reiz*, sich in diesem Paradox zu bewegen. Dass der Tag nun 24 Stunden dauerte, freute alle, die die Dunkelheit als Begrenzung ihrer Möglichkeiten empfunden hatten – die Kapitalisten ebenso wie die Nachtschwärmer*. Warum sollen Mensch und Maschine ruhen, wenn das Licht es ermöglicht, sie rund um die Uhr arbeiten zu lassen und mit ihnen Geld zu verdienen? Warum soll man sich damit zufrieden geben, dass Menschen nachts zu Hause allenfalls ein Buch lesen, wenn man sie auch dazu verführen kann, ihr Geld in Lichtspielhäusern* oder Clubs auszugeben.

Couch oder Utopie

Studierende der Fachhochschule Luzern untersuchten 2014 erstmals den Wirtschaftsfaktor Nachtleben für die Stadt Zürich und errechneten, dass in 60 Bars und 34 Clubs 198 Millionen Schweizer Franken umgesetzt worden seien – ein Betrag, der für den Sprecher der Bar- und Clubkommission Zürich Alex Bücheli auch der Politik die Bedeutung des oft als negativ betrachteten Nachtlebens verdeutlichen könne. Bereits 2012 kamen 35 Prozent der Berlin-Touristen wegen der Clubszene in die Stadt. Was aber ist es, das diesen Reiz der Nacht ausmacht*? Die Autorin Sibylle Berg bietet in ihrem Text „Nacht“ eine Erklärung: Menschen in der Stadt „funktionierten in dem, was ihnen Halt schien… und Halt kennt keine Pause…, in der Unbekanntes Raum hätte zu verunsichern mit dummen Fragen.“ Unnötig zu betonen, dass die dummen Fragen keine dummen Fragen sind, sondern solche, die das während des hektischen Tagesgeschäfts Nicht-Hinterfragte ins Wanken* bringen. Bei den Nighthawks, von Edward Hopper 1942 in seinem gleichnamigen Bild zur Ikone gemacht, steht die Zeit still, die Nacht jenseits der Couch ist ihre große Pause in den vorgeschriebenen Bahnen des Big Business der Moderne. Kasimir Malewitsch malte 1915 „Das schwarze Quadrat“. Es steht für das absolute Nichts, also die reine Potentialität jeglicher möglicher Existenz. In diesem Sinne lässt sich die Nacht als Utopie (wörtlich: Nicht-Ort) verstehen, die nichts ausschließt. Davor haben Mächtige und Tugendwächter* Angst: Vor einem Überschreiten der Grenzen, die ihre Ordnung erhalten. Nur wer rechtzeitig schläft, verrichtet* am nächsten Tag die ihm auferlegte Arbeit ohne „dumme Fragen“.

Natur oder Club

Der deutsche Dichter Novalis, der als Erster im deutschsprachigen Raum den Begriff „Romantik“ verwendete, veröffentlichte 1800 den Gedichtszyklus „Hymnen an die Nacht“. Anders als heute hatte Romantik jedoch nichts mit Gemütlichkeit zu tun, sondern mit der Forderung nach einer Wertschätzung von Abenteuer, Fantastie und Leidenschaft als Gegenpol zum Nützlichkeitsdenken und ungebrochenen Fortschrittsglauben seiner Zeit und der Möglichkeit zur Erweiterung des Wissens durch das Unterbewusste.

Den Künstlern der Romantik – ob in Literatur, Malerei oder Musik – galt somit die Nacht als Quelle, die dem Fremden und Anderen zu seinem Recht verhelfen könnte. Gegenstand ihrer Kritik war sowohl der frühkapitalistische Bürger wie der kleinbürgerliche Spießer*, ihre Motivwelt die nicht allein verstandesmäßig zu erfassende Natur.

An deren Stelle ist bei den heuti-gen Nachtschwärmern der Club getreten. Er verkörpert* Abenteuer sowie Rausch* und Zweckfreiheit. Zu den berühmtesten gehört das Berliner Berghain* (dass  dieser sich in einem ehemaligen Industriebau befindet und sein Name der Natur huldigt*, mag Zufall sein; s. Foto). Nacht für Nacht stehen vor seinen Türen Liebhaber aus der ganzen Welt Schlange, um dem Alltagsrhythmus im Rhythmus des Techno zu entkommen. Ob hier die Nacht zum großen (sozialen) Gleichmacher wird, wie es die Redewendung „Nachts sind alle Katzen grau“ suggeriert*, lässt sich allerdings bezweifeln. Die Türsteher walten* wie Kafkas Türhüter: Ohne je ihre Kriterien preiszugeben*, gebieten sie über den Einlass. Und wie Kafkas „Mann vom Land“ lassen die Suchenden das über sich ergehen* und versuchen es immer wieder. Eine Utopie ist das Berghain nicht, aber eine Welt mit anderen Gesetzen, für einige Auserwählte das Paradies. Zumindest während einer langen dunklen Februarnacht.

Aufgaben

1. Erklären Sie die Kasusformen der Pronomen „denjenigen, dem“ im Satz „Denjenigen, dem man böse Absichten…“
2. Im Text gibt es drei Verben mit ähnlicher Bedeutung wie der von „machen / handeln“. Welche?

*Lesehilfe

bergen: in sich verstecken
die Verlockung: etwas,
das Lust macht
das Begehren: starker
psychischer Wunsch
entblößen: unbeabsichtigt zeigen
unterstellen: unbegründet behaupten
der Reiz: etwas, das eine
unreflektierte Reaktion auslöst
der Nachtschwärmer:
Liebhaber der Nacht
das Lichtspielhaus: Kino
ausmachen: prägen, bestimmen
ins Wanken bringen: verunsichern
der Tugendwächter:
die Moral Kontrollierender
verrichten: machen, erledigen
der Spießer: nur gemäß
den Normen Lebender
verkörpern: stehen / Symbol sein für etwas
der Rausch: durch Ekstase oder Drogen erlangter Zustand
der Hain: kleiner Wald
jdm. / etwas huldigen:
jdn. /etwas verehren
suggerieren: nahelegen,
so tun als ob
walten: aufgrund einer
Machtposition handeln
preisgeben: verraten,
öffentlich machen
etwas über sich ergehen
lassen: ertragen

 

 

 

 

Lösungen

1. „denjenigen“: Akkusativ zu „bezeichnen“, „dem“: Dativ zu „unterstellen“; 2. schaffen, verrichten, walten

 
Подписаться на Московскую немецкую газету

    e-mail (обязательно)