Von Lucia Geis
Weltweit sind 800 Millionen Menschen Genossenschaftler, allein in Deutschland etwa 20 Millionen in knapp 6000 Genossenschaften. Darunter versteht man Wertegemeinschaften, die als Zusammenschluss von Personen das Ziel der wirtschaftlichen und sozialen Förderung ihrer Mitglieder durch einen gemeinschaftlichen Geschäftsbetrieb verfolgen. Schon im Mittelalter gab es genossenschaftsähnliche Vereinigungen, die zum Beispiel die gemeinsame Nutzung der Alpenweiden* oder ein ehrwürdiges* Begräbnis für jeden anstrebten*. 1799 gründete Robert Owen in Schottland die erste Genossenschaftsbewegung, um die Bedingungen der Arbeiter in der Baumwollindustrie zu verbessern. 1844 folgte in England eine Einkaufsgenossenschaft, die durch größere Marktmacht niedrigere Preise erzielen wollte, und kurz darauf riefen in Deutschland Friedrich Wilhelm Raiffeisen und Hermann Schulze-Delitzsch Genossenschaften ins Leben. Raiffeisen wollte in Not geratene Bauern, Schulze-Delitzsch Handwerker unterstützen. Aus ihren Initiativen gingen die Raiffeisen- und Volksbanken hervor. In Zeiten der Industrialisierung blühten die Genossenschaften als adäquates Mittel zur Linderung* des Elends des Frühkapitalismus auf. Auch Ferdinand Lasalle, der Gründer der deutschen Sozialdemokratie, war von der Idee begeistert, dass Eigentümer zugleich Kunden sind und Förderzweck und Selbsthilfe statt Gewinnmaximierung im Vordergrund stehen. Bis heute sprechen sich die deutschen Sozialdemokraten mit „Genosse“ an.
Erfolge
In Deutschland entfällt* ein Drittel der Genossenschaften auf den landwirtschaftlichen Bereich, ein Viertel auf den Wohnungssektor. Ca. 10 Prozent der Berliner leben in Genossenschaftswohnungen, und diese sind – obwohl sie mehrheitlich nicht im Zentrum liegen – in Zeiten explodierender Mieten heißbegehrt*. Denn das System funktioniert folgendermaßen: Will man Mitglied werden, zahlt man eine Einlage* in Höhe von wenigen Monatsmieten in die Genossenschaft und bekommt, sobald verfügbar, eine Wohnung, für die man Miete bezahlt. Mieteinnahmen und Einlagen gehören den Mitgliedern, die mit jeweils einer Stimme darüber entscheiden, was mit ihrem Geld passiert: Werden Solarzellen oder Fahrradstellplätze gebaut, Gemeinschaftsräume eingerichtet oder einfach die Fensterrahmen gestrichen? Wer auszieht, bekommt seine Einlage zurück.
Auch in der DDR gab es Arbeiterwohnungsgenossenschaften. Der Staat förderte sie mit zinslosen Krediten, sodass 1989 eine Million genossenschaftliche Wohnungen existierten – ein Parallelsystem, nicht unabhängig vom Staat, aber auch nicht staatlich.
In Zeiten des einzelkämpferischen Neoliberalismus galten die Genossenschaften als etwas angestaubt*. 2012 kannten zwar laut einer Studie von „Wirtschaftliche Freiheit“ und dem Marktforschungsinstitut GfK 90 Prozent der über 30-Jährigen den Begriff, wogegen er nur etwa 60 Prozent der Jüngeren vertraut war. „Hedonismus“ bedeutet das egoistische Ausleben momentaner Interessen und Bedürfnisse. „Genosse“ geht dagegen etymologisch auf „genießen“ zurück, was ursprünglich „etwas nutzen“ (nicht „besitzen“) bedeutet. Genossen sind somit Menschen, die gemeinsam etwas nutzen. Noch heute sagt man „lebenslanges Wohn- oder Bleiberecht genießen“.
In den 80er und 90er Jahren des 20. Jahrhunderts beriefen* sich nur linksalternative Bewegungen auf die Idee. 1991 ermöglichte der deutschen Tageszeitung taz, die in Finanzschwierigkeiten geraten war, die Gründung einer Genossenschaft das Überleben. Die Alternative wäre der Verkauf an einen Verlag gewesen, von dem die Redaktion sich damit abhängig gemacht hätte. Heute zählt die Genossenschaft 15 000 Mitglieder. Jedes von ihnen hat mindestens 500 Euro eingelegt, eine Stimme bei Entscheidungen und die unabhängige Zeitung gerettet. Seit einigen Jahren erscheint das Konzept vielen als Alternative zur Abhängigkeit von Staat oder Konzernen wieder attraktiv. Vor allem im Energiebereich sind viele Genossenschaften entstanden: Von 2012 auf 2013 hat in Bayern ihre Zahl um 20 Prozent, in Berlin gar um 50 Prozent zugenommen. Daneben wurden genossenschaftliche Lebensmittelläden und Gasthäuser zur Rettung sterbender Dörfer gegründet, und Familiengenossenschaften praktizieren Konzepte der Vereinbarkeit von Beruf und Familie.
Misserfolge
Insolvenz* anmelden musste dagegen 2015 das erste genossenschaftliche Krankenhaus im niedersächsischen Salzhausen. Auch das ehrgeizige Berliner Projekt „Möckernkiez“ könnte scheitern, und die Boulevard-Presse fragte schon voller Häme*: „Sind Gutmenschen* schlechte Rechner?“ Was war passiert? 2007 begannen ein paar Menschen zu spinnen*: Es müsste doch möglich sein, bezahlbaren, ökologischen Wohnraum ohne profitorientierten Investor in der Innenstadt zu schaffen, von dem alle Beteiligten mehr hätten als von einem individuellen Projekt. Der Traum war: Mehrwert an Lebensqualität statt ökonomischer Mehrwert. 2009 gründete man eine Genossenschaft, kaufte im Jahr darauf ein 30 000 Quadratmeter großes Grundstück in guter Stadtlage und plante für 80 Millionen Euro das größte Baugenossenschaftsprojekt Berlins: 464 Wohnungen mit Gemeinschaftsräumen, Restaurant, Hotel, Kita* und Bio-Supermarkt. Der Rohbau* entstand. Dann aber spielten die Banken nicht mit: Das Eigenkapital sei zu gering und die Kompetenz des Vorstands* zweifelhaft. 2014 wurden die Kräne abgezogen – Baustopp. Da die Genossen nicht kapitulieren wollten, tauschte man den Vorstand aus und schränkte basisdemokratische Prinzipien zur Befriedung der Banken ein*. Die Einlagen wurden um ca. 50 Prozent und die zukünftigen Mieten um mehr als 10 Prozent erhöht. Deshalb sind inzwischen einige der über 1300 Mitglieder aus dem Projekt ausgestiegen. Im Oktober tauchte laut Presse ein Förderer auf, der das Projekt mit einem zinslosen 10 Millionen-Euro-Darlehen* angeblich retten wollte, sodass Ende 2015 weitergebaut werden könne. Aber die Baustelle, deren Sicherung monatlich 45 000 Euro verschlingt*, steht weiter still.
Was den Traum der Genossen zu zerstören droht, wird profitorientierte Investoren, die nach einer möglichen Insolvenz Schlange stehen werden, nicht einmal stören. Denn sie wissen, wie sich mit der Not anderer Geld verdienen lässt: Man erwirbt den Scherbenhaufen* und statt die Wohnungen an die Genossen zu vermieten, verkauft man sie an finanzkräftige Einzelkämpfer.
In der Begründung für die Nominierung der Genossenschaften als immaterielles Weltkulturerbe der UNESCO hieß es, dieses System stehe für die zukünftige soziale, wirtschaftliche und kulturelle Partizipation* breiter Bevölkerungsgruppen. Vielleicht hätte die Aufnahme der Genossenschaften in die Liste manchem Akteur, der sich bislang von diesem Grundsatz noch nicht überzeugen ließ, gezeigt, dass es gesellschaftlich sinnvoll ist, ein schützenswertes* Kulturerbe (auch finanziell) zu unterstützen.
Lesehilfe
die Genossenschaft: Wirtschaftsform, bei der es nicht um den Gewinn, sondern die Nutzung geht
mediterran: mittelmeerisch
die Weide: bäuerlich genutzte Wiese
ehrwürdig: respektvoll
anstreben: zum Ziel haben
die Linderung: Verbesserung schlechter Zustände
entfallen: (hier) gehören zu
heißbegehrt: sehr beliebt
die Einlage: Geld, das man einer Institution gibt, damit sie besser arbeiten kann und durch das man ein Mitbestimmungsrecht erhält
angestaubt: altmodisch
sich berufen auf: zu seinem Vorbild machen
die Insolvenz: Zahlungsunfähigkeit
die Häme: böser Spott
der Gutmensch: Schimpfwort für Menschen, die an das Gute glauben (Am 12. Januar wurde das schon lange verwendete Wort als Unwort des Jahres 2015 ausgewählt.)
spinnen: fantasieren, Utopien entwickeln
die Kita: Kindertagesstätte
der Rohbau: Gebäude ohne Fenster, Türen, Installationen
der Vorstand: Leitung eines Unternehmens
einschränken: begrenzen, reduzieren
das Darlehen: Kredit
verschlingen: (hier) schnell verbrauchen
der Scherbenhaufen: das Kaputtgegangene; vor einem Scherbenhaufen stehen (metaphorisch): eine Katastrophe erlebt haben
die Partizipation: Beteiligung, Teilhabe
schützenswert: so wichtig, dass es geschützt werden sollte
Aufgaben
1. Warum entstanden in der 1. Hälfte des 19. Jahrhunderts viele Genossenschaften?
2. Was gehört nicht zu den Vorteilen von Genossenschaften?
a) materieller Gewinn steht nicht im Vordergrund; b) gemeinsam schafft man mehr als alleine;
c) man kann nicht scheitern
3. Was störte die Banken an dem Berliner Bauprojekt nicht?
a) der Vorstand; b) die Lage; c) die Basisdemokratie
Lösungen
1. Sie konnten das Elend des Frühkapitalismus lindern. 2. c 3. b