Wohin laufen sie?

Pheidippides‘ Motiv war klar: Um Athen über den Sieg in der Schlacht von Marathon zu unterrichten, lief er vor über 2500 Jahren die gut 42 Kilometer. Dann starb er vor Erschöpfung. Warum am Berlin-Marathon Ende September mehr Menschen denn je* teilnahmen, ist komplizierter. 

Der BMW Berlin-Marathon zählt zu den Big Five. / SCC EVENTS/PHOTORUN

Der BMW Berlin-Marathon zählt zu den Big Five. / SCC EVENTS/PHOTORUN

Von Lucia Geis

Bereits Wochen vor dem Startschuss zum diesjährigen Berlin-Marathon am 25. September machte sich das Ereignis bemerkbar. In den Morgen- und Abendstunden begegnete man den trainierenden Läufern überall. Das Wetter spielte mit*. Trocken, herbstlich warm. Als es dann drauf ankam*, versammelten sich am Brandenburger Tor über 40 000 Willige, noch einmal 5000 mehr als im Vorjahr. 1974 beim ersten Westberliner Marathon starteten 286 Läufer. Heute zählt der Lauf neben denen in New York, Chicago, London und Paris zu den Big Five. Beliebt ist er auch deshalb, weil sich hier einfacher als anderswo neue Weltrekorde erzielen lassen: Die Stadt hat kaum Berge und insofern zieht sich die Strecke durch die Ebenen der Häuserschluchten*.

Massenbewegung

Nach 2:03:03 Stunden rast der Äthiopier Kenenisa Bekele als Sieger durchs Ziel, gut 17 Minuten später seine Landsmännin* Aberu Kebede als erste Frau. Insgesamt eine nationalismusfreie Veranstaltung. Kaum jemand trägt ein Trikot mit einem Länderemblem, die meisten laufen für sich. Eine Stunde später quält sich das erste große Mittelfeld bei Kilometer 38 über den Potsdamer Platz: Manche geben von Krämpfen* geplagt auf, in schmerzverzerrten Gesichtern mahlen* die Kiefer, fast alle laufen mit Tunnelblick* in die schnurgerade Leipziger Straße ein. Eine Ordnerin warnt davor, zwischen den Läufern die Straße zu überqueren, denn diese bekämen einfach nicht mit, was um sie herum passiere. Eine weitere Stunde später zurück bei Kilometer 34. Das Tempo ist sichtbar langsamer, die Stimmung weniger verbissen*, ja nahezu familiär, die Musikgruppen, die die Läufer anfeuern*, lustiger. Und diese selber auch: Einer hat sich als Glück bringender Schornsteinfeger verkleidet, einer vollführt* mit seinen Kindern am Straßenrand ein Tänzchen. Ein älterer Herr fällt seiner wartenden Ehefrau um den Hals und zieht es dann vor, mit ihr einen Kaffee zu trinken statt weiterzulaufen. Volksfestatmosphäre. Allerdings sind jetzt auch die Signale der Notarztwagen häufiger zu hören. Einige haben sich offensichtlich übernommen.

Was ist passiert, dass sich so viele Menschen aus und auf der ganzen Welt diesen Tort* antun? Wer kann, könnte allein in Deutschland ständig irgendwo laufen, nicht nur bei den großen Veranstaltungen in Berlin, Hamburg und Köln, sondern hundertfach: beim Inselmarathon auf Föhr, beim Gebirgsmarathon in Immenstadt, beim Romantik-Marathon in Füssen, durch Eis, Schnee, Moor und Dünen, durch Heide, Spreewald* oder Hallen. Es gibt den Darmstädter Knastmarathon* und den Welt-Down-Syndrom-Tag-Marathon. Wozu? Für gesund hält niemand diese übermenschliche Anstrengung. Miniskus-, Achillesfersen-, Fußgelenkprobleme begleiten den Alltag der Läufer.

40 000 Ichs

Der griechische Philosoph Epikur geißelte* den Schmerz als eines der Hemmnisse* der Lust (hedone), hielt ihn aber insofern für nebensächlich, als dass er nie die Lust übertreffen könne. Vielleicht sind Marathonläufer demnach Epikureer, wahre Hedonisten: Der Schmerz wird im Angesicht der individuellen Überwindung des für unerreichbar Gehaltenen und der damit empfundenen Lust sekundär – ein Mechanismus, der von Gebärenden bekannt ist. Das könnte auch den Suchtcharakter des Marathonlaufens erklären. Müssen Läufer verletzungsbedingt aussetzen, meiden sie wie Junkies* den Ort des Geschehens. Der frühere Außenminister Joschka Fischer zählt zu den prominentesten deutschen Marathonläufern.

Seit 1996 brachte er nicht nur hunderte Kilometer hinter sich, er publizierte 1999 auch seine dabei gemachten Erkenntnisse unter dem bezeichnenden Titel „Mein langer Lauf zu mir selbst“. Nach eigener Einschätzung war er damals fett und kurzatmig. Er würde aber einen langen Atem brauchen, denn Sozialdemokraten und Grüne schickten sich an*, bei der Wahl 1998 gemeinsam die verstaubte Ära Kohl mit ihrer paternalistischen Altherrenriege* abzulösen. Fischer wollte sein „Kampfgewicht“ zurück, wie er sagte. Im Wahlkampf wurde der inzwischen fast 40 Kilo leichtere Joschka zur Symbolfigur einer zukünftigen anpackenden, zielorientierten Republik. Dass diese Regierung dann die Sozialleistungen kräftig abspeckte* und stattdessen von jedem Eigeninitiative und Einsatz forderte, mag Zufall sein. Der Marathon könnte allerdings auch Ausdruck sich selbstoptimierender Bürger in neoliberalen Zeiten sein. Zumindest ähneln die von Fischer in seinem Buch genannten vier Tugenden eines erfolgreichen Langstreckenläufers – Entschlossenheit, Durchhaltevermögen, Realismus und Geduld – den Ideen der politischen Agenda. 2005 scheiterte die Regierung, das im Lauf gefundene Selbst bekam Kratzer*, kurz darauf gab der Außenminister a. D. das Laufen auf. Und nahm wieder zu. Seit einem Jahr läuft er nun erneut. Zu einem anderen Ich? Vielleicht ist die Vorstellung, Bewegung müsse immer ein Ziel haben – immer gelte es, wie Franz Hessel sagte, wohin zu gehen oder zu laufen – sehr deutsch. Und das Marathonlaufen dagegen einfach nur „ultimativ krass“*. Das jedenfalls stieß der schnellste Deutsche Steffen Uliczka nach dem diesjährigen Berlin-Marathon ins Mikrophon. Es sei ihm nach 42 195 Metern verziehen. Vermutlich wollte er damit sagen, es sei „Wahnsinn“. Das hätte jeder irgendwie verstanden, ist dies doch seit dem Mauerfall die Vokabel, die immer benutzt wird, wenn man keinen Sinn zu artikulieren vermag.

 

*Lesehilfe

denn je: als jemals zuvor
mitspielen: passend sein
drauf ankommen: wichtig werden
die Schlucht: enges, tiefes Tal
die Landsmännin: Frau mit gleicher Nationalität
der Krampf: Schmerz im Muskel
mahlen: mit Druck im Kreis bewegen
der Tunnelblick: Blick, der nur das vor sich Liegende sieht
verbissen: zu ehrgeizig
anfeuern: durch Rufen oder Klatschen motivieren
vollführen: (künstlerisch) machen
sich einen Tort antun: freiwillig eine Qual auf sich nehmen
der Spreewald: Quellgebiet des Flusses Spree
der Knast: das Gefängnis
geißeln: scharf verurteilen
das Hemmnis: Erschwernis
der Junkie: Drogen-/Heroinabhängiger
sich anschicken: beabsichtigen
die Altherrenriege: Gruppe alter Männer
etwas abspecken: reduzieren
einen Kratzer bekommen: beschädigt werden
ultimativ krass: (umgangssprachlich) sehr extrem, sehr besonders

 

 

 Aufgaben

 1. Nennen Sie die im Text genannten Motive für das Marathonlaufen.

2. Am Textende heißt es: „Es sei ihm … verziehen.“ Was bedeutet hier der Konjunktiv I?

 

 

 

 

 

 

 

Lösungen

1. Weltrekord, Körpergewicht, Selbstfindung, Selbstoptimierung, Spaß. 2. Imperativ.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 
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