Wem gehört die Straße?

Die langen Tage und lauen Abende sind vorbei, die breiten Berliner Bürgersteige zunehmend verwaist*. Während des Sommers gab es dagegen mancherorts kein Durchkommen: Immer exzessiver nutzen Gewerbetreibende den öffentlichen Raum für ihre privaten Geschäfte.

Im Regierungsviertel stören Obdachlose nicht. / Lucia Geis

Im Regierungsviertel stören Obdachlose nicht. / Lucia Geis

Von Lucia Geis

Ein kleiner Platz in Berlin Charlottenburg, drumherum Cafés, Buchhandlungen, Restaurants. Und viele Fußgänger. Die breiten Bürgersteige Berlins sind dazu prädestiniert*, die Restaurants in den warmen Monaten nach draußen zu verlagern, sodass alles voller Tische und Stühle steht. Dafür bezahlen die Gastronomen eine jährliche Konzession in Höhe von ein paar hundert Euro und die Besucher freuen sich über Sonne und lebendiges Treiben. So weit, so gut. Scheinbar.

Stühle statt Bänken

Was aber, wenn Kellner vorbeigehende Bettler vertreiben, weil sich angeblich die Gäste gestört fühlen. Nicht selten werden sogar Straßenmusiker verscheucht* – Begründung: Drinnen spiele ein bezahlter Pianist. Gar nicht auszudenken, was passierte, setzte sich ein Stadtbewohner mit Klappstuhl und Bier gleich neben die Terrasse.

Weder Betteln noch Musizieren oder Biertrinken auf der Straße ist verboten. Und dennoch werden diejenigen, die das versuchen, immer häufiger vertrieben von den Orten, die Touristen als Schokoladenseite der Stadt präsentiert werden sollen. Bänke verschwinden zunehmend aus dem öffentlichen Stadtraum, denn wer sitzen will, kann ja in eins der vielen Cafés gehen. Das tun seit Neuestem auch gerne zwei Damen, jung und schön. Die erste nimmt zwischen zu Abend essenden Menschen auf einer Terrasse Platz, hinter ihr steht eine zweite. Diese beginnt, die Sitzende zu massieren. Deren Blick ist nicht entspannt, was sich schnell erklärt. Auf ihren T-Shirts prangt* ein Firmenname. In aller Öffentlichkeit wird Fleisch geknetet*, weil die beiden Damen Werbung für ein Unternehmen betreiben. Als sich Gäste empören*, hören sie, man habe die Erlaubnis des Gastronomen. Die Antwort auf die Frage, warum dieser das für weniger störend halte als Betteln, bleibt der Kellner schuldig*.

Obwohl städtische Straßen und Bürgersteige allesamt aus Steuergeldern finanziert sind, mutieren sie mehr und mehr zum privaten Geschäftsraum, aus dem sich dann qua Hausrecht* Obdachlose oder etwas verrückt wirkende Menschen ausschließen lassen.

Außerhalb der touristischen Hotspots kann sich eine solche Dame dagegen noch behaupten*. Jeden Morgen gegen 8.30 Uhr beginnt sie ihre Schicht*. Sauber gekleidet, akkurat frisiert, die Lippen rot geschminkt, in der Hand einen Einkaufsbeutel, biegt sie in eine schmale Wohn- und Geschäftsstraße ein. Sie läuft bis zum Einbruch der Dunkelheit hin und her, mit niemandem außer sich selber redend, permanent, aber nie zu laut, immer Russisch. Zwischendurch setzt sie sich zum Nickerchen* auf eine der hier noch vorhandenen Bänke. Sie lebt im öffentlichen Raum und in dieser Straße darf sie sein.

 Spreeufer statt Passagen

Anders als diese Dame, die von niemandem etwas erbetteln muss, bedürfen Obdachlose anderer Menschen, um das nötigste Geld zusammenzubekommen. Trotzdem begegnet man ihnen immer häufiger an Orten fern der Öffentlichkeit, wo sie unter sich sind. Im letzten Winter campierten einige in einem versteckten Waldstück an der Freien Universität Berlin. Abends verriet sie ein Feuerchen, den Tag verbrachten sie auf Matratzen unter Plastikplanen*. Im Frühjahr entnahm einer regelmäßig in einem Park seinem Koffer ein Handtuch und wusch sich an einem kleinen Teich. Den Sommer über wuchs an der Spree zwischen Reichstag und Bundeskanzleramt ein Schlaflager zahlreicher Obdachloser heran. Tags, wenn sie sich um ihren Lebensunterhalt kümmerten, lagerte ihr spärlicher* Besitz in Einkaufswagen. Kaum einer der vorbeigehenden Touristen fühlte sich gestört, niemand vertrieb sie.

In all den in Sichtweite liegenden Passagen rund um den Potsdamer Platz haben solche Menschen keinen Zugang. Videokameras und privates Security-Personal sorgen dafür. Eigentlich ist eine Passage ein Durchgangsort von einer Welt in eine andere. In den aseptischen Passagen des Kapitalismus soll man sich dagegen – die Außenwelt vergessend – aufhalten und gänzlich ungestört konsumieren. Walter Benjamin beschrieb die Pariser Passagen des 19. Jahrhunderts als Orte, an denen für die Habenichtse* galt: „Nichts anfassen, nur anschauen“. Heute dürfen diese nicht einmal mehr schauen. Sie dürfen nur noch den Abfall, die Lumpen* sammeln, die die zum Kunden degradierten* Bürger später im öffentlichen Raum zurücklassen.

Unweit der Straße, in der die plappernde* Dame lebt, wurde kürzlich für 800 000 Euro eine sogenannte „Begegnungszone“ eingerichtet. Zwischen fahrenden Autos und Fahrrädern stehen nun Bänke und bemalte Betonklötze, die zum Verweilen* einladen sollen. Die Kritik ist heftig, der Rückbau wird bereits gefordert. Wer jemals auf einer der unbequemen Bänke Platz genommen hat, ahnt, warum. Im Rücken spürt man die Blicke der Reichen und Schönen, die auf den Caféterrassen Cappuccino schlürfen*, vor sich sieht man die leeren Ladenlokale der Einzelhändler: Man kann nicht mehr parken und die Laufkundschaft* ist abhanden* gekommen, da alle in der Mitte der Straße laufen und der Bürgersteig als Begegnungszone autonomer städtischer Bürger abgeschafft wurde.

 

 *Lesehilfe

verwaist: allein, ohne Menschen
prädestiniert: besonders geeignet
verscheuchen: unfreundlich wegschicken
prangen: deutlich sichtbar sein
kneten: durch Fingerbewegungen formen
sich empören: sich ärgern
jdm. etwas schuldig bleiben: etwas nicht machen
qua Hausrecht: aufgrund der Rechte des Inhabers
sich behaupten können: nicht verlieren
die Schicht: Arbeitszeit
das Nickerchen: kurzer Schlaf
die Plastikplane: Decke, Folie aus Plastik
spärlich: ärmlich, wenig
der Habenichts: jd., der nichts hat
die Lumpen (pl.): Reste (meistens Stoff)
degradieren: herabsetzen
plappern: ohne Sinn sprechen
verweilen: sich aufhalten
schlürfen: langsam trinken
die Laufkundschaft: zufällige spontane Kunden
abhanden kommen: verlieren

 

 Aufgaben
1. Wer ist auf Caféterrassen unerwünscht?
a) Masseure, b) Russen, c) Obdachlose?

 2. Was bedeutet der Satz: „Menschen lassen sich ausschließen.“?
a) sie erlauben es, b) sie können ausgeschlossen werden, c) sie geben den Auftrag

 

 

 

 

 

Lösungen

 1. c 2. b

 

 

 

 

 

 

 

 

 
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