Weingeschichten

Fast jede deutsche Stadt hat eine Brauerei, aber keine lebt davon. Dagegen sind ganze Regionen zwischen Rhein, Mosel, Donau und Saale vom Wein geprägt und abhängig. Jedes Jahr im Frühherbst entscheidet sich, ob genügend Sonne die Arbeit der Winzer* mit einem guten Jahrgang* krönt. 

Buch und Wein: Die Kunst des Lesens. / Julia Larina

Buch und Wein: Die Kunst des Lesens. / Julia Larina

Von Lucia Geis

Martin Luther hielt Bier für Menschenwerk, Wein dagegen für von Gott geschaffen. Bier wird gebraut, Wein wird gelesen* und gekeltert*. Die Etymologie der Verben erzählt viel über die beiden Getränke. Während “brauen” auf das Indogermanische “bhreu” zurückgeht und “schwellen” bedeutet, ist „lesen“ eine Mischung aus Althochdeutsch und Latein mit der Bedeutung „auswählen“. Man spricht davon, dass sich ein Gewitter oder Unmut in der Bevölkerung zusammenbraut. Lesen ist dagegen die Kulturtechnik schlechthin*. Worin aber besteht Lesen? Es ist die Kunst, aus einzelnen visuellen Zeichen einen Gesamtklang zu synthetisieren, der einem Wort entspricht, das eine Bedeutung trägt. Auch bei der Weinlese wird das Einzelne ausgewählt, um eine Komposition zu kreieren, und ebenso wie Bücher können Rebsorten* einfach oder kompliziert sein.

Quer durch Deutschland zieht sich vom Rhein im Westen bis zu Donau und Saale im Osten eine Linie. Nur die südlich davon liegenden Gebiete erreichten die Römer, die die Kultur des Weins mitbrachten. Die berühmteste deutsche Rebsorte, der spätreife Riesling, ist zugleich die komplizierteste und nichts für Ungeduldige. Wie bei allen Weinen besteht auch sein Geheimnis in einem ausgewogenen Verhältnis von Säure und Süße, wozu er aber warme regenarme Herbsttage mit nicht zu kühlen Nächten braucht. Spielen der Wettergott über Deutschland und des Winzers Geduldsfaden* mit, entstehen vor allem an der Mosel Riesling-Spitzenweine, die Weinliebhaber verehren und den Biertrinker zu bekehren* vermögen. Die besten davon nennen sich „Auslese“.

 Narren

In den 60er Jahren war kaum jemand in Deutschland bereit, diese Leistung der Winzer zu honorieren. Und so wurde hauptsächlich billig produziert. Nur die Weinfeste mit Weinköniginnen* waren beliebt, denn dabei floss der Wein zu Spottpreisen. Wehe dem*, der abends durch die engen Täler fahren musste, wo die biergewöhnten Besucher unberechenbar durch die Straßen torkelten*. Die Deutschen liebten die Wirkung, nicht den Genuss und machten so ihrem Sprichwort „Der Wein ist kein Narr*, aber er macht Narren“ alle Ehre*. Ein Glas Wein bei Essen oder Gespräch mit Kumpanen* hatten allenfalls einige Männer in französischer Kriegsgefangenschaft kennen gelernt. Dieses Lebensgefühl besang der linke Liedermacher Franz Josef Degenhardt 1963 in seinem Lied „Ich möchte Weintrinker sein“.

Nach der Abschaffung der europäischen Zölle in den 70er und 80er Jahren wurde der deutsche Markt mit Weinen aus Südeuropa geschwemmt. Pinot Grigio gab es in jeder Kneipe, kaum einer wusste, dass Grauburgunder die gleiche Traube ist, da sie in Deutschland fast verschwunden war. Jetzt sang Udo Jürgens „Griechischer Wein“
und sogar den ‚typischen‘ deutschen Römer – ein bauchiges Glas auf dickem grünen Stil – tauschte man gegen schlankere Gläser. Die deutschen Winzer mussten sich besinnen* und aus der Not eine Tugend machen. Mit der Massenproduktion der Südländer konnten sie nicht konkurrieren, da ihre Reben mehrheitlich an steilen Hängen wachsen. Das verhindert den Einsatz von Maschinen, die einerseits zwei Dutzend Handleser ersetzen, andererseits aber ahnungslos alles von den Stöcken* reißen, was sie fassen können. Der deutsche Wein wird dadurch zwar teuer, aber auch besonders. Nur der menschliche Leser weiß, welche Traube in den nächsten Tagen und Nächten noch besser wird. Nur er hat das Gespür dafür, ob zwei Sonnenstunden sie zu veredeln* vermögen. Ein so erzeugter Wein ist anders, genau wie das Bücherregal eines Lesers etwas anderes ist als die Buchtipps, mit denen einen das Internet aufgrund von Algorithmen bombardiert. Winzer wie Leser treffen eine Auswahl.

Adler

Inzwischen ist deutscher Wein, allen voran der Riesling, Aushängeschild der deutschen Landwirtschaft. Jedes gute Restaurant hat ihn auf der Karte. Und zum kulinarischen Genuss ist ein weiterer hinzugekommen: Fuhr man früher zur Olivenernte nach Italien, bieten nun heimische Winzer die Möglichkeit, bei der Weinlese dabei zu sein – entweder als Wanderer durch die Frühherbsttage oder als Helfer. Am Abend gibt es dann zum wieder erwachten Heimatgefühl den ersten frischen Wein, den Federweißer. Später – längst mit Schal und Mütze ausgestattet – kann man bei seinen Streifzügen* Trauben entdecken, die eher Rosinen ähneln und ganz allein am Stock hängen, weil das dunkelrote Weinlaub längst abgefallen ist. Sie sind nicht vergessen, sondern bewusst dem Frost anheim gegeben*. Daraus werden die süße Spätlese oder der Eiswein, sozusagen die Aus-Auslese.

Das Wort „Elite“ hat in Deutschland einen ebenso ambivalenten Klang wie das Wort „Selektion“, wurden doch beide von den Nazis missbraucht. Dennoch bedeuten sie letztlich dasselbe wie „Auslese“. Allmählich wird das Wort „Elite“ wieder hoffähig*. Neben Elite-Universitäten gibt es viele selbst ernannte Eliten, die letztlich zwar nicht sonderlich wichtig sind, ihren Lebensstil aber für besonders auserwählt halten. Und so kann man außer guten Weinen auch vegane finden. Was das ist? Angeblich werden beim Keltern Mücken selektiert, was natürlich seinen Preis hat, ohne die Mücken zu retten. In der Berliner Akademie der Künste kostet ein Glas mit 9 Euro fast doppelt so viel wie ein anderer Wein. Charles Baudelaire verehrte wie viele Philosophen und Schriftsteller die im Wein liegende kreative Kraft und schrieb: „Der Wein wandelt den Maulwurf zum Adler“. Aber diesen elitären Höhenflug* hätte der Franzose vermutlich von oben belächelt.

 

 

*Lesehilfe
der Winzer: der Weinbauer
der Jahrgang: Bezeichnung für das jeweilige Jahr des gelesenen Weins
Wein lesen: Weintrauben mit dem Ziel der Weinproduktion ernten
keltern: auspressen der Trauben
schlechthin: überhaupt
die Rebsorte: kultivierte, unter einem Namen bekannte Weinrebe (-pflanze)
der Geduldsfaden: (metaphorisch) Nerven
bekehren: jdn. von etwas Fremdem, Abgelehntem überzeugen
die Weinkönigin: jüngere Frau, die ein Jahr lang eine bestimmte Weingegend repräsentiert
wehe dem: Ausspruch für eine Warnung
torkeln: schwankend gehen
der Narr: Spaßmacher, Dummkopf
alle Ehre machen: (hier ironisch) etwas tun, um seine Verehrung zu zeigen
der Kumpan: vertrauter Freund
sich besinnen: sich erinnern, überlegen
der Stock: Stamm der Weinpflanze
veredeln: eine hochwertigere Form erzielen
der Streifzug: Entdeckungstour
jdm. anheim geben: jdm. vertrauensvoll überlassen
hoffähig: toleriert, akzeptiert
der Höhenflug: (metaphorisch) irrsinniger Gedanke

 

 Aufgaben

1. Was wird im Text über den Riesling gesagt?
a) er braucht kühle Herbstnächte, b) er ist ein Aushängeschild, c) es gibt ihn auch vegan
2. Wie ist der deutsche Name für Pinot Grigio?

 

 

 

 

Lösungen

 1. b 2. Grauburgunder

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

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