Quadratisch, praktisch, tot

Wer als westdeutsches Kind in die DDR reiste, erlebte ein Gefühl der Fremdheit, das sich vor allem aus einer Abwesenheit speiste. Es gab weder Coca-Cola noch Orangen, aber merkwürdiger schien die Nichtexistenz von Plastiktüten. Nun sollen sie in ganz Deutschland verschwinden. 

20 von weltweit einer Billion Plastiktüten. / Lucia Geis

20 von weltweit einer Billion Plastiktüten. / Lucia Geis

Von Lucia Geis

Bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts erkannten die deutschen Soziologen Georg Simmel und Siegfried Kracauer, dass die Wahrheit an der Oberfläche*, das heißt in den Dingen des alltäglichen Lebens, liege. Beide reflektierten über Mode, Lichtreklame und die Tiller Girls*. Walter Benjamin nannte seinen Freund Kracauer anerkennend den „Lumpensammler* frühe im Morgengrauen“. Die Lumpen, die heute im wahrsten Sinne des Wortes die gesamte Oberfläche der Erde bedecken, sind die Plastiktüten (auf eine Billion schätzen Umweltverbände das weltweite jährliche Aufkommen). Egal, ob man durch die menschenleere argentinische Pampa fährt, sich an einen entlegenen See in Mecklenburg verirrt oder es bis in die Arktis schafft, überall sind sie wie der Igel im Märchen immer schon da und brauchen bis zu 500 Jahren für ihren endgültigen Zerfall*. Ein Fernsehbild aus den Neunziger Jahren wurde zur Ikone, weil es den Deutschen vor Augen führte, wie nah der Kosovokrieg war: In längst für unmöglich gehaltenen, mittelalterlich anmutenden* Flüchtlingstrecks schleppten Menschen ihre Siebensachen* in Plastiktüten des deutschen Billig-Discounters Aldi mit sich herum*.

Der Aufstieg 

Knisternd*, geschmeidig*, transparent,  mit oder ohne Logo, trivial oder chic, unkaputtbar oder recyclebar, Massenware oder künstlerisches Unikat – so kommen sie daher, die unverzichtbaren Begleiter der schnelllebigen, globalen Konsumwelt. Manch einer betrachtet sie als praktische Wegwerfware, in anderen Haushalten liegen sie fein säuberlich gestapelt und harren* ihrer Wiederverwendung. Der Dürener Heinz Schmidt-Bachem sammelte sie über Jahrzehnte, und von 1995 bis 2011 wurden all seine Papier- und Plastiktüten im „Portable Art Museum“ ausgestellt. Der Besucher konnte eine Zeitreise erleben, denn die Farben und Designs der Tüten unterliegen einem ähnlichen Wandel wie die in ihnen nach Hause getragenen Produkte.

Warum aber entstand überhaupt der (Plastik-)Verpackungsboom, der heute die Welt belastet und die Europäische Union zum Handeln veranlasst?

Bis ins 18. Jahrhundert gelangten Waren in großen Mengen in Körben oder Säcken direkt vom Erzeuger zu den oft fliegenden* Einzelhändlern. Dort packte man sie in vom Verbraucher mitgebrachte Behältnisse*. Hundert Jahre später führten Verstädterung und Rückgang der Selbstversorgung zu einem rapiden Anstieg des Handels und des Transports. Neue Verpackungsmaterialien und Vertriebsstrategien mussten entwickelt werden. Vorerst stellten Händler und Produzenten selber Tüten aus alten Akten oder Zeitungen her. Bald entstanden Tütenklebeanstalten in Gefängnissen und Waisenhäusern. Die erste Fabrik zur massenhaften Herstellung von Tüten gründete 1853 im hessischen Allendorf der Buchbindermeister Gumpert Bodenheim. Damit auch die Händler für sich werben konnten, fingen sie an, die verpackten Produkte noch einmal zu verpacken – in Tüten, die ihr Name schmückte. Die Inflation der Verpackung ist somit die logische Konsequenz in einer Welt der Markenprodukte und Supermärkte. Und so machen die Verbraucher seit Jahrzehnten für Produkte und Händler Werbung, wenn sie mit deren Tüten durch die Straßen laufen, ohne dass sie dafür einen Cent erhalten.

Der Fall

In den Achtziger Jahren entstand in Deutschland mit der Antiatomkraftbewegung und der Gründung der Partei „Die Grünen“ allmählich ein ökologisches Bewusstsein. In Bioläden gab es nur noch Papiertüten, und Händler, die einen Hauch* von Luxus und Exklusivität oder Aufgeklärtheit* verströmen wollten – die Kosmetikbranche war dabei Vorreiter* – nutzten mehr und mehr die bereits in den Sechziger Jahren entwickelte folienkaschierte* Papiertragetasche, die allerdings auch nicht besonders ökologisch ist, aber so aussieht. Fortan wurde es zum sozialen
Distinktionsmerkmal*, ob man seinen Pullover in einer Plastik- oder einer Papiertüte nach Hause trägt.

Vor dem Hintergrund einer EU-Richtlinie, die vorsieht, den Verbrauch von Kunststofftüten in einem ersten Schritt auf 90 und bis 2025 auf 40 Tüten pro Kopf und Jahr zu reduzieren, traf das deutsche Umweltministerium im Juli dieses Jahres eine freiwillige Vereinbarung mit dem Handelsverband Deutschland. Nach dieser soll der Verbrauch in den kommenden zehn Jahren um knapp die Hälfte (derzeit liegt er bei 71) sinken und bis 2018 sollen mindestens 80 Prozent aller Tüten kostenpflichtig sein. Den Preis dürfen die Händler selber festlegen und von dieser Regelung ausgenommen sind dünne Tüten etwa für Obst und Gemüse. Und natürlich all die Plastikverpackungen, in die sämtliche Lebensmittel und Kosmetikprodukte sowieso eingepackt sind. An manchen Orten wie zum Beispiel Textilreinigungen kann man seitdem absurde Situationen erleben. Wer einen Mantel abholt, kann sich diesen auf einem Bügel hängend in meterlange Kunststofffolie einschlagen lassen, was nichts kostet, aber für ökologisch gesinnte Radfahrer völlig unpraktikabel ist, oder 20 Cent für eine Plastiktüte bezahlen. Ob ein mitgebrachter Stoffbeutel eine geeignete Alternative ist, kann bezweifelt werden und den Meerestieren ist es egal, ob die Mikroplastikteilchen in ihrem Organismus von einer Tüte oder einer Folie stammen. Ein Narr*, der glaubt, den tödlichen Folgen des Konsums entkommen zu können.

 

 

 *Lesehilfe

die Oberfläche: das Sichtbare (der Dinge)
Tiller Girls: Gruppen von Revuetänzerinnen, in denen alle gleich tanzen
der Lumpen: unbrauchbar gewordene (Stoff-)Reste
der Zerfall: allmähliches Kaputtgehen, Sterben
anmutend: scheinend
die Siebensachen: das Notwendigste des Alltags
mit sich herumschleppen: Schweres ohne bestimmtes Ziel mit sich tragen
knistern: kurzes, raschelndes Geräusch erzeugen
geschmeidig: weich, glatt
einer Sache (Genitiv) harren: warten, bereitstehen
der fliegende Händler: reisender Händler
das Behältnis: Gegenstand (z. B. Dose) zur Aufbewahrung von Dingen
einen Hauch von etwas verströmen: etwas diskret ausstrahlen
die Aufgeklärtheit: reflektiertes Bewusstsein
der Vorreiter: jd., der etwas macht, bevor es Mode wird
folienkaschiert: mit einem stabilen Material bedeckt
die Distinktion: Unterscheidung
der Narr: (hier) Dummkopf

 

 

Aufgaben

1. Nennen Sie Stichworte zur Chronologie der Verpackungssorten.
2. Erklären Sie Bedeutung und grammatische Form des Wortes „unkaputtbar“, das für eine Werbung erfunden wurde.

 

 

 

 

 Lösungen

1. Behältnis, Papiertüte, Plastiktüte, folienkaschierte Papiertragetasche, Kostenpflicht der Plastiktüte
2. Kann nicht kaputt gemacht werden (Passiversatz).

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 
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