Nation zwischen Aufstand und Amnesie

Die Feiertage der DDR kennt kaum noch jemand, und dem westdeutschen „Tag der deutschen Einheit“ am 17. Juni droht das gleiche Schicksal. Da heute ein normaler Arbeitstag, wissen immer weniger Jugendliche etwas über den Aufstand, zu dem es an diesem Tag 1953 in der DDR kam. Politik und Opferverbände bleiben beim jährlichen Staatsakt zum Gedenken der Opfer unter sich.

Straße des 17. Juni (im Jahr 1988) – Hinter der Mauer brodelt der nächste Aufstand. / Roland Arhelger

Straße des 17. Juni (im Jahr 1988) – Hinter der Mauer brodelt der nächste Aufstand. / Roland Arhelger

Von Lucia Geis

In Vergessenheit geratende Termine – Beispiel 1: Der 17. Juni

Zugezogene* können sich insbesondere solche Straßennamen schwer merken, die sich auf Daten beziehen, denn diese sagen ihnen meistens nichts. Zum Glück bietet die Berliner „Straße des 17. Juni“ kaum etwas, was man im Alltag braucht, und den sie umgebenden Tiergarten im ehemaligen Westberlin findet man auch, ohne den Straßennamen im Kopf zu haben.
Der Nationalfeiertag eines Staates liegt üblicherweise auf einem Datum, an dem es auf dem Territorium dieses Staates zu einem wichtigen Ereignis kam. Die Franzosen feiern die Französische Revolution, viele Staaten ihre Unabhängigkeit und das heutige Deutschland den Tag, an dem der Einigungsvertrag in Kraft trat* und die DDR ihr eigenes Ende besiegelte*. Bis dahin hatte es in Westdeutschland keinen Tag gegeben, den man als Nationalfeiertag bezeichnete. Denn auch wenn der Staat BRD sich zwischen Mai und September 1949 konstituiert hatte, versagte* sich der Westteil der geteilten Nation nationales Feiern. Die DDR hatte weniger Skrupel* und rief den Tag ihrer Staatsgründung am 7. Oktober 1949 zum Nationalfeiertag aus. Mit den Ereignissen des 17. Juni 1953 begann Westdeutschland, seine Praxis der Zurückhaltung* zu ändern.

Tod und Einheit

Seit dem 12. Juni hatten Bürger östlich des Brandenburger Tors und in der gesamten DDR gegen niedrige Löhne, eine massive Versorgungskrise* und für freie Wahlen demonstriert. Fünf Tage später war mindestens eine Million Menschen auf den Straßen, bevor Panzer der in der DDR stationierten Sowjetarmee anrückten*. Pflastersteine flogen und der Ausnahmezustand wurde verhängt*. Nach heutigen Erkenntnissen kamen mehr als 50 Menschen ums Leben, wurden erschossen, erlagen ihren Verletzungen*, starben in der Haft, wurden hingerichtet oder begingen Selbstmord. Der DDR-Journalist Karl-Eduard von Schnitzler sah die Verantwortung im „gekauften Abschaum* der Westberliner Unterwelt“, den er vor allem beim Rundfunk im amerikanischen Sektor (RIAS) glaubte. Dessen Chefredakteur Egon Bahr – später Berater Willy Brandts bei den Ostverträgen – bewertete den Vorgang naturgemäß anders. Dennoch bestätigte er die Unterstützung aus Westberlin. Mit Tricks sei es ihm damals gelungen, die Ostberliner auf einen bevorstehenden Aufstand hinzuweisen, erzählte er zeit seines Lebens.

Auch unmittelbar danach blieb die Bundesrepublik nicht untätig. Bereits am 22. Juni taufte der Berliner Senat die Allee westlich des Brandenburger Tors in „Straße des 17. Juni“ um, knapp drei Wochen später machte der Bundestag per Gesetz den Tag des Aufstands als „Tag der deutschen Einheit“ zum gesetzlichen Feiertag. 1963 erklärte Bundespräsident Heinrich Lübke ihn zum „Nationalen Gedenktag des deutschen Volkes“. Das Wort „national“ war in die estdeutsche Gedenkkultur eingezogen, wenn auch durch die Hintertür*: Erst Ereignisse in einem anderen Staat hatten es ermöglicht – vermutlich einzigartig in der Geschichte der nationalen Feiertage.

Welche Beziehung der Einzelne zu diesem Tag pflegte, hing von seinem grundsätzlichen Interesse an den „Brüdern und Schwestern im Osten“ ab. Hatte man dort keine Verwandten, endete die Welt am Eisernen Vorhang. Der Tag war dann lediglich ein willkommener freier Tag im Sommer.

Bevor es damit 1991 vorbei war, durften alle Westdeutschen ein Jahr erleben, in dem sie zweimal den „Tag der deutschen Einheit“ feiern konnten – den alten im Juni zum letzten Mal und den neuen am 3. Oktober, den man jetzt mit großem „D“ schrieb, zum ersten Mal.

Einheit und Vergessen

Vor dem Berliner Reichstag kam es am 3. Oktober 1990 zur gesamtdeutschen Jubelparty. Trotzdem hörte man auch kritische Stimmen, die den Tag des Mauerfalls als Feiertag bevorzugt hätten. Und in der Tat wäre das dem Mut der DDR-Bevölkerung, den diese schon 1953 gezeigt hatte, gerechter geworden. Aber der Tradition, einen Aufstand in Form eines Feiertags zu würdigen*, glaubte man nicht treu bleiben zu können, da das Datum des 9. November erneut für Tote gestanden hätte: 1918 revoltierten Matrosen und Arbeiter gegen Kaiser und Krieg – was einerseits zum Kriegsende beitrug, aber andererseits zu bürgerkriegsähnlichen Zuständen führte – und zwanzig Jahre später brannten in ganz Deutschland die Synagogen.

Den 3. Oktober kennt inzwischen jeder – und jeder nennt ihn selbstverständlich „Nationalfeiertag“. Beklagt* wird aber, dass etliche junge Leute nichts mehr mit dem 17. Juni verbinden, wie 2013 das Erfurter Meinungsforschungsinstitut INSA feststellte. Während nur 4 Prozent der über 55-Jährigen den Tag nicht kannten, waren es bei den unter 24-Jährigen 16 Prozent. Auch die Bundesregierung gibt auf ihrer Internetseite der Befürchtung Ausdruck, der Tag drohe in Vergessenheit zu geraten, obwohl man versuche, das durch Ausstellungen und Vorträge zu verhindern, und zum Jahrestag am Berliner „Mahnmal für die Opfer des Volksaufstands“ eine Kranzniederlegung stattfinde. Berlins Innensenator Frank Henkel (CDU) erwog* bereits eine Reanimierung des 17. Juni als gesetzlichen Feiertags. Aber müsste man dann nicht auch all die Tage, an denen Widerstandskämpfer dem Nationalsozialismus zum Opfer fielen, zu Feiertagen machen? Zur Lektüre (an freien Tagen) böte sich der große DDR-Dramatiker Heiner Müller an, der wusste: „Es ist ein Irrtum, dass die Toten tot sind.“

In der nächsten Ausgabe erscheint Beispiel 2 der in Vergessenheit geratenden Termine: Der Schlussverkauf.

 

 

 

*Lesehilfe

der/die Zugezogene: jemand, der nicht an diesem Ort geboren wurde
in Kraft treten: gültig werden
besiegeln: endgültig machen
sich etwas versagen: sich selber etwas verbieten (obwohl man es möchte)
der Skrupel: (meistens im Plural) moralische Bedenken
die Zurückhaltung: Vorsicht, Scheu
die Versorgungskrise: Mangel an Gütern des täglichen Bedarfs
anrücken: in einer (militärischen) Gruppe kommen
verhängen: anordnen
seinen Verletzungen erliegen: sterben
der Abschaum: sehr abwertende Bezeichnung für Menschen, die man für schlecht hält
durch die Hintertür: auf Umwegen, (hier) ungeplant
würdigen: Respekt, Anerkennung zeigen
(sich) beklagen: etwas verbal und öffentlich bedauern
erwägen: (wohlwollend) prüfend überlegen

 Aufgaben
1. Im Text gibt es sechs Funktionsverbgefüge, z. B. in Vergessenheit geraten. Finden Sie die fünf anderen.
2. Warum wurde nach der Wiedervereinigung nicht der 9. November zum Feiertag?

 

 

 

Lösungen

1. In Kraft treten, ums Leben kommen, Selbstmord begehen, etwas (Dat.) Ausdruck geben, zum Opfer fallen. 2. Am 9.11.1918 und am 9.11.1938 gab es viele Tote.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 
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