Mit Kranz, Uniform und Trompete

Seit 1952 wird in der Bundesrepublik an einem Novembersonntag der Volkstrauertag als Gedenktag der Kriegstoten und Opfer der Gewaltherrschaft aller Nationen begangen*. Während des Nationalsozialismus hieß der Tag, den die Weimarer Republik erfunden hatte, Heldengedenktag.

Kriegsgräberstätte Hürtgen bei Aachen. / Manfred Dohmen

Kriegsgräberstätte Hürtgen bei Aachen. / Manfred Dohmen

Von Lucia Geis

Sigmund Freud definierte 1917 Trauer als „die Reaktion auf den Verlust einer geliebten Person“. Damals war der Erste Weltkrieg in vollem Gange* und die Zahl der Toten überstieg alles bis dahin Vorstellbare. Als die Waffen endlich ruhten, war von Friede und Versöhnung dennoch keine Rede. Der Hass vieler Deutscher auf die Franzosen kochte durch den Versailler Vertrag und die Dolchstoßlegende* rechter Kreise erst richtig hoch*. In dieser Stimmung konnte die Idee des Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge (VDK), einen Tag zum Gedenken an die im Krieg Gefallenen einzuführen, nur neue Fronten eröffnen*. Als er im März 1925 schließlich stattfand, erinnerten Konservative an die heldenhafte Opferbereitschaft der Kriegsfreiwilligen von 1914, während Jungdemokraten und Verbände der Kriegsgefangenen den Tag als Aufruf zum Frieden verstanden. Die Kommunisten sprachen von „Kriegshetzertag“*. Die Linke sollte Recht behalten, denn mit der Errichtung der nationalsozialistischen Diktatur übernahmen NSDAP, Wehrmacht und Propagandaminister Goebbels die Regie und nannten ihn Heldengedenktag. Dass er fortan nichts mehr mit Trauer oder gar Frieden zu tun hatte, zeigen schon seine Daten: 1938 fand er einen Tag nach dem Einmarsch deutscher Truppen in Österreich statt, 1939 drei Tage vor der Zerschlagung der Tschechoslowakei.

 Still und leise

Als dann das Bombengeheul verklang, KZ-Überlebende und Millionen Vertriebene durchs Land irrten und den Deutschen ihr martialisches* Kriegsgebrüll endgültig im Halse stecken blieb, machten sie sich an die Arbeit und schämten sich stumm. Die Psychoanalytiker Margarete und Alexander Mitscherlich bescheinigten den Deutschen 1967 in ihrem Buch „Die Unfähigkeit zu trauern“ ein Fehlen jeglicher Empathie mit den jüdischen Opfern und das Ausbleiben* einer gesellschaftlichen Trauerreaktion. Allerdings klärten sie nicht, wie eine kollektive Trauer aussehen könnte, ja ob sie überhaupt möglich ist.

Der Volkstrauertag, den die Bundesrepublik seit 1952 mit einer Gedenkstunde im Bundestag unter Federführung* des VDK begeht, ist wie schon in der Weimarer Republik umstritten. Auch wenn er nun dem Gedenken an alle Opfer von Krieg, Vertreibung, Gewaltherrschaft und Terror dient.

Was aber passiert bei dieser Gedenkstunde? Vor aufgestellten Kreuzen beginnt die Veranstaltung mit einer Schweigeminute, dann ein Glockenschlag, Vertreter verschiedener Kirchen und der jüdischen Gemeinde, Politiker, ausländische Gäste und Bundeswehrangehörige sowie Familienmitglieder der bei aktuellen Einsätzen gefallenen deutschen Soldaten werden begrüßt. Es folgen Reden, unterbrochen von Chören, der Nationalhymne und dem Lied „Der gute Kamerad“.

Die Redner formulieren meist philosophisch beschauliche* Gedanken zu Krieg, Frieden und Völkerverständigung, während der VDK die Bedeutung der Soldatenfriedhöfe hervorhebt. So hätten etwa 2011 in Weißrussland 20 000 deutsche Soldaten beigesetzt* werden können. Ob diesem Ereignis eine Erwähnung oder gar Gedenkstunde im deutschen Parlament zusteht*, kann bezweifeln, wer weiß, was auch Angehörige der Wehrmacht und nicht nur der SS dort verbrochen haben. Das Lied „Der gute Kamerad“ ist ebenfalls nicht unproblematisch, denn es stammt zwar aus der deutschen Romantik und gehört heute zum Trauerzeremoniell der Deutschen Bundeswehr. Aber es wurde auch von den Nationalsozialisten zu propagandistischen Zwecken und zur Aufstachelung* gegen den Feind missbraucht. Der Text gibt das her*, stellt er doch das eigene Schießen als das Normale dar, während die Kugel des Feindes den guten Kameraden tötet. Am Volkstrauertag (wie auch bei anderen Anlässen) ertönt deshalb heute nur die Melodie, gespielt von einem Trompeter in Uniform.

 Grau und lila

Der Volkstrauertag zählt zu den sogenannten „stillen Tagen“ und im Bendlerblock* herrscht wie an zahlreichen anderen Gedenkorten bei den Kranzniederlegungen in der Tat viel Schweigen. Das Volk trauert derweil* vor allem, da an dem Tag einfach nichts los ist: Flohmärkte, öffentliche Partys und andere, traurige Gedanken vertreibende Veranstaltungen dürfen nämlich nicht stattfinden. Schaltet es den Fernseher nicht ein, sieht es auch nicht, wie die Angehörigen der Bundeswehr in ihren gediegen* grauen Ausgehuniformen auf den lilafarbenen Sitzen des Parlaments Platz nehmen. Der Volkstrauertag ist trotz aller Worte zu Versöhnung und Völkerverständigung ein Tag des Militärs und der in Vergangenheit und Gegenwart gefallenen (deutschen) Soldaten. Angehörige der Opfer jeglicher Gewalt sind zwar nicht ausgeschlossen, aber sie haben ihre je eigenen Trauerformen, um den Verlust einer geliebten Person zu verarbeiten.

Der ehemalige Bundespräsident Christian Wulff beschrieb einst das Wesen des Tages mit den Worten: „Trauern mit allen, die Leid tragen“. Obwohl das nach Empathie klingt, darf bezweifelt werden, ob sich dahinter die Empathie verbirgt*, die Margarete und Alexander Mitscherlich vermisst hatten. Denn sie sprachen von „Trauerarbeit“, nicht von Ritualen.

 

 

*Lesehilfe
begehen: mit Ritualen verbringen
in vollem Gange sein: auf dem Höhepunkt sein
die Dolchstoßlegende: Behauptung, dass die Sozialdemokraten Deutschland nach 1918 durch den Versailler Vertrag ins Elend gestürzt hätten
hochkochen: erneut stark werden
eine neue Front eröffnen: einen neuen Konflikt herbeiführen
der Hetzer: jd., der andere bösartig zu etwas verleitet
martialisch: mit roher Gewalt
ausbleiben: nicht passieren
die Federführung: Initiative, Leitung
beschaulich: nicht provozierend
jdn. beisetzen: jdn. beerdigen
zustehen: einen (moralischen) Anspruch haben
die Aufstachelung: Aufforderung zur Aggression
hergeben: ermöglichen, erlauben
der Bendlerblock: heute Bundesministerium für Verteidigung und Gedenkstätte des Deutschen Widerstands, in der NS-Zeit Sitz des Allgemeinen Heeresamtes und Hinrichtungs ort des Hitlerattentäters Graf von Stauffenberg
derweil: währenddessen
gediegen: brav, unspektakulär
sich verbergen: hinter etwas sein, sich verstecken

 

 

 Aufgaben

1. Welcher Gruppe wird am heutigen Volkstrauertag nicht gedacht?
a) Vertriebene, b) Wehrmacht, c) Bundeswehr, d) NSDAP?

 2. Erklären Sie folgende grammatische Verbkonstruktion: „hätten beigesetzt werden können“. 

 

 

 

 

 

 

 

 

 Lösungen

1. d 2. Konjunktiv II Vergangenheit Passiv mit Modalverb.

 

 

 

 

 

 

 

 

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