Ihr Kinderlein, kommet!

Weihnachten ist längst nicht mehr die stille Zeit, als die sie einst besungen wurde. Rituale wie Kekse, Kerzen, Weihnachtsmarkt und Geschenkekauf bedeuten für die meisten Jahresendzeitstress. Und dann gibt es da noch tausende Attraktionen für Kinder.

Profan oder heilig? Weihnachtsspaß für Kinder. / Lucia Geis

Profan oder heilig? Weihnachtsspaß für Kinder. / Lucia Geis

Von Lucia Geis

Bei den einen war es „Hänsel und Gretel“, bei anderen „Aladin und die Wunderlampe“. Beim berühmten Regisseur Jürgen Flimm „Peterchens Mondfahrt“. Mit Weihnachten hatte es meistens nichts zu tun, wohl aber mit Verzauberung, die für all diejenigen, die auch als Erwachsene noch ins Theater gehen, einer Initiation* gleichkam*: das Weihnachtsmärchen im Stadttheater. Landauf, landab* öffnen die Theater in der Vorweihnachtszeit ihre Pforten* für Kinder, selbst wenn sie sich das ganze Jahr über wenig um diese kümmern. Nun aber stürmen schon morgens um zehn hunderte Kinder in die Plüschsessel vor dem roten Vorhang, um Hexen, Wölfe oder Schneewittchen zu bestaunen. Dass Märchen zu Weihnachten Hochkonjunktur haben und nicht Szenen aus dem alten Testament, dürfte auch das Deutsche Theater Berlin gewundert haben, setzte es doch mit „An der Arche* um acht“ von Ulrich Hub ein Kinderstück über Glaube und Freundschaft auf den Spielplan.

Feilscher

Kein Fest scheint für Kinder so geeignet wie Weihnachten, handelt es sich doch um dasjenige, an dem der Geburt eines Kindes gedacht wird, das später zum Begründer einer Weltreligion werden sollte. Diesen herzergreifenden Aspekt hat das Christentum den anderen monotheistischen Weltreligionen voraus*, die sich auf erwachsene Verkünder stützen (müssen) oder einfach auf Schriftzeichen. Kaum ein Erwachsener feiert Weihnachten freiwillig ohne Kinder und ihre im Angesicht des illuminierten Weihnachtsbaums leuchtenden Augen. Denn nach der eigenen Entzauberung ist das Fest nur noch ein langes Wochenende und primär mit der Hektik der Festvorbereitungen verbunden, die allenfalls* durch die ungeduldige Vorfreude der Kinder entschädigt wird. Um schließlich strahlende Kinderaugen zu bekommen, bedarf es jedoch in Zeiten des weltweiten Konsums und seiner Versprechen mehr als einer Krippe* oder einer vorgelesenen Geschichte. Sobald die Kleinen aus dem Kindergartenalter herausgewachsen sind, wissen sie genau das und fangen an zu feilschen. Im Bus entlang des weihnachtlich beleuchteten Berliner Kurfürstendamms sind dann Gespräche zu hören, in denen eine Mutter sagt, man müsse dringend einen Adventskalender besorgen, der Vater einwendet, dieses Jahr gebe es keinen, und der zehnjährige Sohn kühl kontert*, dann werde das Weihnachtsgeschenk aber größer. Und so buhlen* allüberall die Geschäftemacher um die Kinderwünsche und den Geldbeutel der Eltern. Laut Prognosen des Statistik-Portals „Statista” werden in Deutschland 2016 pro Kopf 266 Euro für Weihnachtsgeschenke ausgegeben. (Zum Vergleich: Einem angzeitarbeitslosen stehen monatlich knapp 400 Euro für Lebensmittel, Strom, Telefon, Transport, Kleidung etc. zur Verfügung.) Doch damit nicht genug. Denn Weihnachten beginnt ungefähr zwei Monate vor dem 24. Dezember.

Trucker

Auf den Straßen essen die Menschen noch Eis, während in den Supermärkten die ersten Lebkuchen aufgebaut werden. Die Sommerferien sind gerade beendet, da geht bereits der Run* auf die Frühbucherrabatte für die Weihnachtsferien los. Das hat weniger mit Vorfreude zu tun, denn Vorfreude heißt abwarten können, als mit einem Wettlauf, den uns die Broker gelehrt haben: Die besten Geschäftemacher sind die schnellen. All dem kann sich kaum jemand entziehen*, auch nicht wenn er ursprünglich ein eher anarchischer Zeitgenosse war. Ein gutes Beispiel dafür sind die Macher der Berliner Märchenhütten. Zu Wendezeiten probierten sich ein paar Künstler mit Theater und Tanzveranstaltungen in alten Ballhäusern aus. Inzwischen ist daraus ein Unternehmen mit Kneipen, Pizzerien und eben den Märchenhütten geworden. In zwei alten polnischen Holzhäuschen am Rande der Museumsinsel werden in der Weihnachtszeit Grimmsche Märchen rauf- und runtergespielt*. Einst vom frechen Charme lebend gehören die Veranstaltungen heute mit 30 000 verkauften Karten zum etablierten Vorweihnachtsprogramm. Schon im Oktober war auf der Homepage zu lesen „Endlich! Ab dem 5. November“. Und wer in der Adventszeit spontan eine Karte kaufen will, findet fast nur ausverkaufte Schneewittchen-, Hänsel und Gretel- oder Rotkäppchen-Vorstellungen. Das Märchen „Hase und Igel“ um den neunmalklugen* Igel, der sich nicht bemühen, sondern nur schnell und trickreich siegen will, steht auch auf dem Programm. Die Zuschauer sollen sich „gruseln*, freuen, ängstigen und begeistern“ und als ob die Veranstalter selber ahnten*, dass das nicht unbedingt weihnachtlich klingt, bezeichnen sie die Märchen als ihre Heilige Schrift.

Berlinern, die sich das nicht leisten können oder wollen, aber trotzdem quengelige* Kinder haben, bietet man auch Kostenloses auf den letzten Drücker*. Am 23. Dezember rollen fünf Coca-Cola Trucks vors Brandenburger Tor, um die Bild-Zeitung bei ihrer Hilfsaktion „Ein Herz für Kinder“ zu unterstützen. In den achtzehn Tonnen schweren Blechmonstern sind Santa Claus in einer „märchenhaften Weihnachtswelt“ und Youtube-Stars zu sehen, die für eine „besinnliche* Atmosphäre“ sorgen, so die offizielle Homepage der Stadt Berlin. Wer da nicht Lust bekommt, das Weihnachtslied „O laufet ihr Hirten*… zum Kripplein im Stall“ zu singen, dem ist nicht zu helfen, auch wenn er die Gans vom Discounter Lidl, der jedem ein luxuriöses Weihnachtsfest verheißt*, schon im Gefrierfach hat. Völlerei* ist im Übrigen nach der Lehre der katholischen Kirche eine der sieben Todsünden.

 

 

*Lesehilfe

die Initiation: prägendes Erlebnis, das in eine neue Welt oder Gruppe einführt
gleichkommen: ähneln, bedeuten
landauf, landab: überall im Land
die Pforte: große Tür
die Arche: (biblisch) Schiff, auf dem Noah alle Gattungen vor der Sintflut rettete
voraushaben: einen Vorteil haben
allenfalls: höchstens, im besten Fall
die Krippe: Behälter für Tierfutter (Jesus verbrachte dort seine erste Nacht)
kontern: erwidern
buhlen: um die Gunst, Wertschätzung konkurrieren
der Run: Ansturm auf etwas Begehrtes
sich entziehen: aus dem Wege gehen, ausweichen
rauf- und runterspielen: pausenlos spielen
neunmalklug: besserwisserisch, schlau
sich gruseln: (lustvoll) ängstigen
ahnen: eine undeutliche Idee haben
quengelig: nörgelnd
auf den letzten Drücker: im letzten Moment
besinnlich: ruhig, nachdenklich
der Hirte: Tierhüter (im Freien)
verheißen: versprechen
die Völlerei: Fresssucht, Maßlosigkeit

 

 

Aufgaben

1. Die Überschrift enthält das Verb „kommet“. Warum hat es die (alte) Endung „et“?
2. Im Text gibt es die Nomen „Verzauberung“ und „Entzauberung“. Kennen Sie Verben mit diesen Vorsilben, die auch einen Gegensatz beschreiben?

 

 

 

 

 

 

Lösungen

1. Konjunktiv I, der für den Imperativ benutzt wird (wie bei „seiet!“)
2. versalzen, entsalzen; verdecken, entdecken; verwirren, entwirren; verspannen, entspannen

 

 

 

 

 

 
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