Garantiert vegetarisch

Auch in Deutschland lebt man nicht vom Brot allein. Trotzdem werden laut Deutschem Brot­register über 3000 Brot-spezialitäten gebacken – aus unterschiedlichen Getreidesorten oder Kartoffeln, mit Blätter-, Sauer- oder Hefeteig, hart, weich, hell, dunkel, mit Zucker, Salz oder Kräutern, Öl, Wasser oder Milch, rund, eckig, gebogen, glutenfrei* oder vegan.

Backstube Anfang des 20. Jahrhunderts (Brotmuseum Ulm). / Wikipedia/ Frank C. Müller

Von Lucia Geis

Der Weihnachtsbraten war noch nicht verdaut, da verblüffte* der deutsche Agrarminister Christian Schmidt die Deutschen mit einer spektakulären Initiative. Zum Schutz der steigenden Zahl der Vegetarier in Deutschland wollte er dem vegetarischen Schnitzel seinen Namen rauben, da die Liebhaber dieses Erzeugnisses vor der Irreführung geschützt werden müssten, es könnte sich dabei eben doch um ein Schnitzel, sprich um Fleisch, handeln. Die Frankfurter Allgemeine Zeitung wies darauf hin, dass Schnitzel vom Mittelhochdeutschen sniz, also Schnitt stamme, ein vegetarisches Schnitzel aber aus Sojabrei gepresst sei. Insofern darf man zukünftig vielleicht nur noch dann von einem vegetarischen Schnitzel sprechen, wenn man sich von einem Sojabreipressling* ein Stück abschnitzt. Ob die Österreicher ihren Pfannkuchen weiterhin Palatschinken nennen dürfen, ist zum Glück deren Sache. Vergessen wurde in der Diskussion der rheinische halve Haan – ein halbes Weizenmehlbrötchen mit Käse, garantiert ohne Hahn. Der Musiker und Schauspieler Helge Schneider (der im Übrigen kein Schneider ist) setzte dem „super sexy“ Käsebrot ein musikalisches Denkmal (s. Youtube: Helge Schneider Käsebrot). In etwas sprachlich Gewachsenes hinein-zuschneiden, erscheint insofern ähnlich brachial wie der Schnitt in ein Schwein.

Fleischlos

Brot war und ist und wird immer garantiert vegetarisch sein, ohne Irreführung. Verwirrend nur, dass gutes Brot teurer ist als Fleisch aus dem Supermarkt. Wie Christen damit in der momentanen Fastenzeit umgehen sollen, ist eine nicht-gestellte Frage. Aber die Kirchen schlagen sowieso seit 20 Jahren einen Verzicht aufs Auto vor.

In diesem Jahr schlossen sich Umweltbundesamt und die Grünen dieser Idee an, ergänzten sie allerdings um den Wunsch, die „Autofaster“ mit einem verbilligten Angebot für den Öffentlichen Nahverkehr zu locken. Ob sie in Erwägung* ziehen, die Dauerautofaster* ganzjährig finanziell zu unterstützen, sagten sie nicht. Vielleicht könnten sie diesen ja das teure Biobrot bezahlen.

Immerhin kostet ein Kilo davon etwa 6 Euro, also zwei Drittel des Brutto-Mindestlohns für eine Arbeitsstunde und damit fünfmal soviel wie ein Kilo beim Discounter. Der Katholik Konrad Adenauer wusste* um die Bedeutung des Brots. Als die Deutschen im Ersten Weltkrieg nichts zu fressen* hatten, fiel er nicht gleich in Russland oder Frankreich ein, um die Ernte zu rauben wie man es im Zweiten Weltkrieg tat, sondern er erfand ein Brot aus Schrot* und Mais. In der Bevölkerung hieß es Kriegsstulle* oder auch Viehfutter. Geschmeckt hat es offensichtlich nicht. Heute ist es in Kölner Bäckereien in verfeinerter Form als Adenauerbrot erhältlich.Dass Brot verschimmelt*, ist dagegen ein Luxusphänomen. Heute werden in Deutschland jährlich 500 000 Tonnen weggeworfen, beileibe* nicht nur schimmeliges. 10 % bis 20 % der Tagesproduktion erreichen den Verbraucher erst gar nicht, denn so viel liefern die Bäckereien gleich an Tierfutterhersteller oder Biogasanlagen: Für ein Brot, das älter als 24 Stunden ist, will niemand zahlen. Da ist der auf den verlogenen Jargon der DDR gezielte Satz des DDR-Dramatikers Heiner Müller „Wär kein Hunger, wieviel Brot gäb’s“ absurderweise Realität geworden.

Brotlos

Für die Neue Deutsche Welle Band „Foyer des Arts“ wurde schimmeliges Brot 1986 zum Killer bunter Scheinwelten (s. Youtube: Schimmeliges Brot – Foyer des Arts). Im gleichnamigen Lied scheitern Wahlkämpfer genauso wie schöne Spanierinnen, weil schimmeliges Brot ihre Versprechen Lügen* straft, sodass schließlich in der Gesellschaft die Wut hochkocht*.

Das geschah vor ein paar Jahren auch in Berliner Bäckereien, als zugezogene Schwaben sich erdreisteten*, Semmeln zu ordern, obwohl der gemeine* Berliner von Schrippen spricht. Zurzeit wirbt ein internationaler Fastfoodanbieter mitten in der Fastenzeit gemäß dem Sprichwort „In der Not schmeckt die Wurst auch ohne Brot“ lieber für ein Vergnügen mit „Doppelt Fleisch. Kein Brot“. Das Monstrum besteht aus zwei Lagen Fleisch, dazwischen ein bisschen Käse. Vielleicht macht der Konzern sich auch aus Angst um seine Marktanteile zum Fürsprecher derjenigen, die vom politisch korrekten Meinungsterror der Vegetarier schwadronieren*. Denn zu seinem größten Konkurrenten in Deutschland wurden im Jahr 2013 laut Zentralverband des Deutschen Bäckerhandwerks die Bäckereien, angeblich aufgrund veränderter Lebensgewohnheiten der Bevölkerung: Wer alleine lebe, esse weniger (Brot) zu Hause und mehr unterwegs, worauf die Bäckereien durch ein Angebot von Pizza und belegten Brötchen reagiert hätten.

Will die klassische Bäckerei mit Backstube und Bäckermeister vor Ort neben den von Großbäckereien belieferten Filialen und dem Supermarktangebot bestehen, muss sie sich etwas einfallen lassen. Außer einem hochwertigen Angebot frei von Konservierungsstoffen oder Backtriebmitteln* wird dem Kunden in diesen immer häufiger der Blick in die Backstube gewährt*. Das lockt die Verbraucher einer Transparenz fordernden Gesellschaft. Und zu sehen, dass unser täglich Brot nicht vom Himmel gleich ins Supermarktregal fällt, sondern Arbeit und Erfahrung dahintersteckt, kann vermutlich einen Lebensstil fördern, dem ein Käsebrot super sexy und Brot, das seinen Preis hat, als Kulturgut erscheint.

Aufgaben

1. Was haben vegetarisches Schnitzel, Palatschinken und „halve Haan“ gemeinsam?
2. Warum gibt es im Satz „Wer allein lebe, … worauf die Bäckereien reagiert hätten“ Konjunktiv I und Konjunktiv II?

*Lesehilfe

glutenfrei: ohne Getreideprotein
verblüffen: überraschen
der Sojabreipressling: (Neologismus) aus Sojabrei Gepresstes
in Erwägung ziehen: als Möglichkeit betrachten
der Dauerautofaster: (Neologismus) jd., der nie Auto fährt
wissen um: sich der Relevanz bewusst sein
nichts zu fressen haben: hungern
das Schrot: grob gemahlene Getreidekörner
die Stulle: Brot mit Belag
verschimmeln: durch
Pilzbildung verderben
beileibe nicht: auf keinen Fall
Lügen strafen: zeigen, dass etwas nicht der Wahrheit entspricht
hochkochen: entstehen, stark werden
sich erdreisten: unverschämt handeln
gemein: üblich, normal
schwadronieren: dumm reden
gewähren: erlauben
das Backtriebmittel: Stoff,
der einen Teig auflockert

 

 

 

 

 

Lösungen

1. Sie enthalten trotz des Namens kein Fleisch; 2. Der Konj. I ist im Plural wie Präsens, deshalb Konj. II.

 
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