Es gibt kein richtiges Leben

Auf den ersten Blick verbindet den iranischen Film „The Salesman“, die Inszenierung von Arthur Millers „Tod eines Handlungsreisenden“ am Deutschen Theater Berlin und ein Geschenk der Volksrepublik China an die Stadt Trier wenig. Wer genauer hinschaut, sieht ein Geflecht* aus Schein und Sein, aus Macht, Abhängigkeit und Ohnmacht, aus Demütigung* und Stolz.

Marx in Trier: 2013 zum Lachen, heute bitterer Ernst. / Jörg Kaspari

Von Lucia Geis

Ein Riss geht um in der Welt. Ein Riss durch Menschen, Häuser, Städte, Gesellschaften. Wenn Georg Büchners Satz „das leiseste Zucken des Schmerzes macht einen Riss in der Schöpfung von oben bis unten“ stimmt, dann leben wir in schmerzvollen, wahrhaft gottlosen Zeiten. Dass Menschen sich in solchen mit vereinfachenden Erzählungen abspeisen* lassen, kann nur als paradoxe Reaktion verstanden werden. Denn Phrasen, die von Antagonismen leben, tragen zur weiteren Vertiefung der Risse bei. Hinweggefegt sind die Versuche, den Stolz des Menschen in seinen Handlungen, seiner Arbeit zu begründen. Stattdessen erleben in einer Welt, in der Arbeitslosigkeit die Massen von jeglicher Teilhabe ausschließt, grundlegende Werte wie Nation und Religion Hochkonjunktur. Ein komplexeres Narrativ* als das der populistischen Nebelkerzenwerfer* wird in Kunst und Kultur und den damit einhergehenden Debatten geboten.

Spaltung*

Der Gewinner des diesjährigen Oscars für den besten ausländischen Film, der Iraner Asghar Farhadi, reiste zur Preisverleihung nicht in die USA – aus Protest gegen Donald Trumps demütigendes Einreiseverbot, das Menschen aus sieben muslimischen Ländern ausschließen und entlang der vermeintlichen Trennlinien Religion und Nation die Welt in Gut und Böse spalten wollte. Die erste Szene in Farhadis Film zeigt Risse in einer Wohnung. Das dort lebende junge Ehepaar probt in seiner Freizeit Millers Klassiker „Death of a Salesman“. Eines Abends wird die Frau überfallen. Ihr Mann macht sich, verstört von dieser Erschütterung, auf die Suche nach dem Täter, der sich als alter Mann herausstellt. Abends auf der Bühne als Millers Protagonist der Gedemütigte, demütigt der junge Mann nun den alten, indem er ihm droht, seiner Familie von dessen Doppelleben zu erzählen. Dem Mann zerreißt es im wahrsten Sinne des Wortes das Herz, denn mit der öffentlich vorgeführten Kluft* zwischen seiner Lebenslüge und seinen strengen, religiösen Moralvorstellungen kann er nicht leben. Auch die Beziehung des jungen Paars geht in die Brüche. Der Film zeigt eindrücklich, dass nichts besser wird, wenn irgendjemand sich befugt fühlt, gottgleich über Gut und Böse zu urteilen, ja dass alles nur falsch sein kann, wenn die Verhältnisse falsch sind.

Dass Farhadi den Finger nicht nur in die Wunden der iranischen Gesellschaft legt, kann man im Deutschen Theater Berlin sehen. Regisseur Sebastian Kraft und das Ensemble um Schauspielstar Ulrich Mühe zeigen die heillose* Allianz von Zwängen und Täuschungen, die das Leben des Protagonisten zerstört. Die FAZ schrieb zurecht, dieser Loman, der nach lebenslanger Tätigkeit als Handlungsreisender gnadenlos gefeuert* wird, sei „keiner von gestern und keiner von heute“, sondern „allgegenwärtig“. Ihm, dessen Stolz sich zeitlebens aus der falschen Hoffnung speiste, seine Arbeit würde ihn irgendwann mit Erfolg krönen, gelingt es immer weniger, Haltung zu wahren. Die Geister einer ausschließlich an Profit orientierten Gesellschaft, die nicht er rief, verfolgen ihn als Schatten, während er mit wankendem* Schritt und schalen* Floskeln durch eine ihm leergewordene Welt irrt, bis ihm nur noch der Selbstmord bleibt. Der amerikanische Traum, jeder könne es schaffen, wenn er nur fleißig ist, entlarvt* sich als zur Selbsttäuschung der Ausgeschlossenen gewordene Täuschung. Die Folgen der Verblendung* erfuhr Miller am eigenen Leib, als man ihm im Zuge von McCarthys Kommunistenjagd 1953 den Pass verweigerte, sodass er nicht zur belgischen Premiere seines Stücks „Hexenjagd“ fahren konnte.

Versöhnung

Der stolzen Römerstadt Trier, voller bestaunenswerter Tore und Mosaike, droht ein Dilemma zu zerreißen. Den 200. Geburtstag ihres berühmtesten Kindes namens Karl Marx nahm das ebenso stolze China zum Anlass, ihr ein Geschenk in Form einer 6,30 Meter hohen Statue des Philosophen in Aussicht zu stellen. Das Sprichwort „Einem geschenkten Gaul schaut man nicht ins Maul“ drängt sich seitdem auf, sind Leben und Finanzen der Stadt doch vom Kapital des Schenkers abhängig. 150 000 Chinesen, die nicht nur von kommunistischen Spuren, sondern auch von deutschen Markenprodukten träumen, lassen inzwischen jedes Jahr in Trier einen Teil ihres Urlaubsbudgets. Nach langen Debatten beschloss der Trierer Stadtrat trotz tiefer Meinungsverschiedenheiten in der Bevölkerung Mitte März die Annahme des Geschenks. Die CDU findet das schlicht „toll“ und freut sich auf noch mehr chinesische Touristen, die SPD hofft auf eine „Diskussion mit der ganzen Welt“ und eine Vertreterin der Linken sieht in der Entscheidung eine Anerkennung der „treffenden Analyse“ des Kapitalismus. Aber die Proteste flauten* nicht ab: Kirchenvertreter schrieben offene Briefe, die frühere DDR-Bürgerrechtlerin Vera Lengsfeld sprach von einer „Schande“. Inzwischen ist nur noch von 5,50 Metern die Rede. Dass Marx einmal zur Verhandlungsmasse in einem Poker ums kommunistische Geld werden würde, ist die Pointe in einer Welt, die den Sozialismus mit dem Beelzebub* ausgetrieben hat. Ob der einst wie heute Welten entzweiende Gigant jemals als Weltenverbinder in welcher Größe auch immer aufs Podest gehoben wird, bleibt weiter offen. Einigt man sich, wären für einmal alle so richtig schön* falsch versöhnt. Macht Marx es möglich?

 

Aufgaben

1. Erklären Sie die Doppeldeutigkeit des im Text erwähnten deutschen Sprichworts.
2. Welches der Nomen ist in „trotz tiefer Meinungs-verschiedenheiten in der Bevöl-kerung Mitte März“ ein Attribut?

 

*Lesehilfe
das Geflecht: dichtes Netz
die Demütigung: tiefe Kränkung
jdn. abspeisen: (umgangsspr.) vertrösten
Nebelkerzen werfen: etwas verschleiern, jdm. etwas einreden
das Narrativ: für die Gesellschaft relevante Erzählung
die Spaltung: (böswillige) Teilung
die Kluft: tiefer Riss
die heillose Allianz: Unglück bringende Verbindung
jdn. feuern: jdn. plötzlich entlassen
wanken: unsicher gehen
schal: stupide, einfallslos
sich entlarven: unfreiwillig zeigen
die Verblendung: Blindheit für Vernünftiges
abflauen: weniger werden
den Teufel mit dem Beelzebub austreiben: etwas Schlechtes durch etwas kaum weniger Schlechtes ersetzen
so richtig schön falsch: so falsch, dass es absurd schön ist

 

 

 

 

 

Lösungen

1. Es gehört sich nicht, die Qualität eines Geschenks zu überprüfen / Man kann sie nicht überprüfen; 2. In der Bevölkerung.



        
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